„Hast du Lust eine Runde zu spielen?" Kieran steckte seinen Kopf durch die Tür, während ich meine Schulsachen in den Rucksack packte.
„Solange es nicht wieder in einen dunklen Keller geht", jauchzte ich theatralisch.
Ein leises Lachen folgte. „Nein, ich hatte ja versprochen, dass wir dieses Mal etwas machen, was dir Spaß macht."
Überrascht und neugierig blickte ich zur Tür.
Kieran warf mit einer Hand einen abgewetzten Ball empor. „Eine Runde Fußball gefällig?"
Ich grinste verzückt. Er hatte es sich gemerkt.
Im nächsten Moment wurde meine gute Laune jedoch im Keim erstickt. „Du weißt, dass Großvater das nicht will."
Kieran warf den Ball in meine Richtung. Rasch fing ich ihn auf und ließ dabei den Rucksack zu Boden fallen.
„Keine Sorge, ich habe an alles gedacht." Kieran klopfte sich auf die Schulter und ich warf ihm den Ball augenverdrehend wieder zu. „Großvater wird uns nicht stören."
„Hast du ihn in einen dunklen Keller gesperrt?" Ich schmunzelte.
„Leider nicht, der alte Mann hat alle Schlüssel. Aber ..." Kieran hob den Zeigefinger. „ ... er ist eben mit Yuna in die Stadt gefahren, um ein paar Besorgungen zu machen. Zwei Stunden gebe ich den beiden mindestens."
Die arme Yuna. Seit der Diskussion über meine Sprachkurse warf Großvater ihr ein Haufen versteckter und weniger versteckter giftiger Blicke zu.
„Also?" Kieran stieß die Tür ein Stück weiter auf und schritt rückwärts in den Flur. „Lust auf ein kleines Duell?"
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Auch wenn die Bluse und der helle Rock nicht unbedingt die beste Wahl für ein Spiel waren, war ich zumindest im Heim keine schlechte Spielerin. Und dass Kierans Tennisstunden ihm halfen, bezweifelte ich.
Keine Stunde später lagen wir beide völlig ermattet und verdreckt auf dem Rasen hinter dem Haus.
„Dreißig zu zehn", jaulte Kieran auf.
Eine weitere Lachsalve durchschüttelte meinen Körper.
„Konntest du nicht etwas Rücksicht nehmen?", jammerte er gespielt.
„Konntest du nicht etwas besser sein?", feixte ich noch immer lachend.
„Unfair. Irgendwann gibt es eine Revanche."
„Irgendwann?", wiederholte ich und starrte in den Himmel.
„Ja, im Tennis vielleicht", sinnierte Kieran.
„Meinst du, ich bleibe so lange hier?" Sorgenvoll richtete ich mich auf.
Kieran tat es mir gleich. „Klar, wieso nicht? Oder willst du weglaufen?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Schade", sagte er und ließ den Blick über das weite Grün schweifen. „Ich würde auf jeden Fall mitkommen."
„Warum das?", entfuhr es mir.
„Darum."
„Ich weiß nicht, ob es irgendwo anders besser ist als hier", nuschelte ich und stützte mein Kinn auf die angewinkelten Knie.
„Bestimmt. Aber die Frage ist, ob wir dahin kommen würden."
„Wahrscheinlich würden wir eh in einem Heim landen. Oder ich zumindest. Du kommst wieder zu deinem Großvater."
Kieran stieß den Fußball weg. „War es schlimm im Heim?"
Ich blickte zu ihm rüber.
In seinen Augen spiegelte sich ernstes Interesse.
Den Kopf wiegend starrte ich wieder geradeaus. „Es ging. Nicht die Hölle, aber auch nicht wirklich schön. Es wird viel geklaut und manche Kinder sind ..."
„Scheiße."
Ich presste die Lippen aufeinander.
Kierans Mundwinkel hoben sich kurz. „Du kannst es ruhig sagen. Großvater ist nicht hier."
„Ja, scheiße. Ich habe mein Zuhause immer sehr vermisst."
„Bei deiner Mama und deinem Papa", setzte Kieran hinzu.
Ich schüttelte den Kopf. „Nur Mama."
Behutsam beugte Kieran sich nach vorne und ein Stück näher zu mir. „Was ist mit deinem Papa passiert?"
Ich zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Im Gefängnis glaube ich. Meine Mama meinte, er ist ein schlechter Mensch." Etwas unwohl zupfte ich einen Grashalm heraus. „Wir haben in einer nicht so schönen Gegend gewohnt. Nicht so schön und gut wie du. Es wurde viel geklaut wie im Heim."
„Meinst du, er war deshalb im Gefängnis?"
„Vielleicht, oder etwas mit ..." Das nächste Wort flüsterte ich. „... Drogen."
Kierans Augen weiteten sich. „Ein Drogenboss. Spannend."
Ich schüttelte den Kopf. „Gar nicht spannend. Das ist mega gefährlich. Außerdem weiß ich es auch nicht wirklich. Meine Mama hat nicht so gern über ihn gesprochen." Meine Augen zu Schlitzen verengend beschloss ich Kieran in die Mangel zu nehmen. „Und was ist mit deinem Papa?"
Einen Moment wurde Kierans Miene starr, bevor er betont lässig mit den Schultern zuckte. „Du meinst, warum er mich hier nicht rausholt und vor dem irren Alten rettet?"
Ich kratzte mich am Kopf. „Was hast du nur immer mit Großvater? Er ist zwar etwas streng, aber eigentlich doch ganz nett ...
„Nett ...", spuckte Kieran aus und wollte fortfahren, als raschelnde Schritte im Gras ihn unterbrachen.
Ich sah nicht, wer sich uns näherte, aber Kierans Gesicht wurde zu einer entsetzten Maske.
„Steh auf", zischte er ernst.
Mit großen Fragezeichen in den Augen folgte ich seinem Befehl und drehte mich um.
„Aha." Mit ärgerlicher Miene stolzierte Großvater auf uns zu.
„Entschuldigung", schoss es aus Kieran heraus.
Doch Großvater hob die Hand. „Was soll diese Chose hier?"
Ich verstand das Wort nicht, aber eine eiskalte Brise schlug mir entgegen. Dabei war es völlig windstill.
„Es war meine Idee", kam Kieran meiner Frage zuvor. „Ich habe Mari gezwungen mit mir Fußball zu spielen."
„Aber ich ...", setzte ich an. Immer noch nicht in der Lage zu verstehen, was hier gerade vor sich ging.
„Beide still." Großvaters Stimme donnerte in meinen Ohren. So laut hatte ich ihn noch nie erlebt und zum ersten Mal verspürte ich so etwas wie Angst. Vor allem weil sie mir aus Kierans himmelblauen Augen entgegenschrie.
„Sie kann wirklich nichts dafür", entgegnete er. „Ich habe ..."
„Ich will keinen Ton mehr hören." Großvater nahm uns beide ins Visier wie ein Löwe seine Beute. „Ich bin maßlos enttäuscht. Schaut euch doch mal an. Von oben bis unten verdreckt wie Gossenkinder."
Ich schluckte und sah an mir herunter. Der helle Stoff war übersät von grünen und braunen Flecken.
„Es tut mir leid", gab ich geknickt von mir. „Ich kann es rauswaschen ..."
„Ich will keinen Ton mehr hören", kam es erbost zurück.
Großvaters Stimme erschütterte mich und ich spürte wie meine Augen feucht wurden, als ich eine warme Hand am Oberarm spürte. Es war Kierans.
„Ihr braucht euch hier gar nicht zusammentun und gegen mich zu verschwören", spie Großvater. „Das wird Konsequenzen haben. Kieran, du gehst sofort in mein Arbeitszimmer. Und Marisol, deine Schonzeit ist langsam vorüber. Geh ins Kinderzimmer, ich komme dann später zu dir."
Ängstlich sah ich Kieran an. Schonzeit ...
„Sofort sagte ich", befahl Großvater.
Wir setzten uns in Gang.
Keiner sagte auch nur einen Ton. Schuldbewusst trotteten wir in das Innere des Hauses.
„Der widerliche Ball kommt sofort in den Müll", blökte er Yuna an, die dabei war große Tüten ins Haus zu verladen.
Oben an der Treppe angekommen trennten sich unsere Wege. Überfordert lief ich zum Kinderzimmer, während Großvater und Kieran den Weg in Richtung Arbeitszimmer einschlugen. Vorsichtig drehte ich mich um, doch die beiden verschwanden bereits durch die Tür.
Schuldbewusst lief ich in Kierans Schlafzimmer und ließ mich auf meinem Bett nieder. War es wirklich so schlimm, was wir getan hatten?
Schniefend griff ich nach Miau und drückte den kleinen Plüschbären an mich.
Der Zeiger der großen Uhr oberhalb des Türrahmens schob sich quälend langsam voran.
Da hörte ich Schritte auf dem Flur. Mehrere Schritte.
Schnell legte ich Miau beiseite, stand auf und glättete den dreckigen Rock. Ich straffte meine Schultern und strich mir über die Wangen. Ich wollte auf keinen Fall weinerlich aussehen.
Langsam wurde die Tür geöffnet.
Ich neigte den Kopf zur Seite.
In dem Moment stieß sie auf und Kieran lief hinein.
Ich konnte nicht sehen, was passiert war. Schnurstracks kam er auf mich zu, während Großvater an der Tür verharrte.
Sein Blick war starr.
Mit einem Mal legte er die Arme um mich. Verblüfft wollte ich die Umarmung erwidern. Doch als meine Arme seine Taille berührten, zuckte er unwillkürlich zurück.
„Was ist los?", flüsterte ich.
„Nana, Kieran, nicht so dramatisch", raunte Großvater. „Das reicht jetzt. Komm Marisol."
Ich verstand nicht ...
Da spürte ich wie Kierans Hand hinter meinem Rücken unter meine Bluse griff und an meinem Rockbund zog.
Ich wollte mich beschweren, aber er zischte so leise, dass Großvater ihn nicht hören konnte: „Sag nichts."
Dann steckte er etwas Kühles in meinen Rockbund.
Bevor ich verstand, was geschah, löste er sich von mir.
Sein Blick heftete sich unerbittlich an meinen und mit eindringlicher Stimme sagte er: „Du schaffst das."
„Marisol, es reicht", schimpfte Großvaters. „Genug mit dem Theater und komm."
Verwirrt lief ich an Kieran vorbei, als er etwas raunte, das klang wie „Ich komm später".
Plötzlich packte mich eine Hand am Arm. Grob und feste.
„Ich habe gesagt, genug mit dem Theater", insistierte Großvater wütend.
„Aua", gab ich zurück, aber sein Griff wurde stärker. Es begann bereits zu schmerzen.
Was war nur passiert?
„Du tust mir weh", gab ich zurück, während Großvater mich durch den Flur in Richtung Treppe zog.
„Ich habe dir zu Beginn gesagt, dass schlechtes Handeln Konsequenzen hat und wer sich nicht benehmen kann, wird lernen müssen, diese zu ertragen."
„Aber so schlimm war es doch gar nicht", gab ich entsetzt zurück. „Ich mache die Kleidung auch sauber. Die ganze Nacht. Ich verspreche es."
„Du solltest vorsichtig sein mit deinen Versprechungen, junge Dame", kam es zurück und ich stolperte beinahe die Stufen hinunter, während er mich hinter sich her schleifte.
„Mein Arm tut weh", wimmerte ich. Sein Griff war wie eine Fessel.
„Du hattest versprochen, Kieran zu helfen und ihn nicht zu Unsinn anzustiften."
„Ich, ich habe nicht ..."
„Jaja, Kieran meinte auch, es wäre seine Idee. Ich mag zwar alt, aber nicht senil sein. Ich weiß, dass du gerne diese furchtbare Ballsportart spielst." Auf einmal machte Großvater Halt und stieß eine Tür auf, die ich noch nicht kannte. Doch bei dem Anblick wurde mir schlecht.
Altes Gemäuer, eine Treppe, die hinabführte.
„Was? Was soll ..."
Großvater riss mich hinter sich her.
Ich wollte mich am Türrahmen festhalten, aber er war stärker und ich hatte Angst, hinzufallen.
„Kieran hat seine Strafe bereits erhalten. Und deine Karenzzeit ist abgelaufen." Ein lautes, unangenehmes Schnauben ertönte und verfing sich in den alten Steinen. „Ihr Kinder tanzt mir doch sonst nur auf der Nase rum."
Er sprach weiter, aber ich verstand nicht. Kein einziges Wort verstand ich. Stattdessen machte sich blankes Entsetzen in mir breit.
„Was ...", wiederholte ich immer wieder, ohne es zu schaffen, auch nur eine ganze Frage zu formulieren.
Unten angekommen steuerte er auf eine alte Holztür zu.
Großvater drehte den bronzenen Schlüssel um.
„Wohldosierte körperliche Züchtigung ist ein adäquates Mittel, um euch Jungspunde im Zaum zu halten."
Ängstlich blickte ich zu ihm hinauf. Ich verstand nicht. Ich verstand ihn nicht. Seine Worte. Alles hier.
„Aber ich gebe Recht in dem Punkt, dass Frauen und Mädchen nicht geschlagen werden sollten", fuhr Großvater fort. „Das heißt aber nicht, dass sie nicht auch Konsequenzen für ihre Entgleisungen erfahren sollten."
Ich bekam keinen Ton heraus.
„Du wirst die Nacht heute hier im Keller verbringen. Ohne Abendessen und allein. Dann kannst du in Ruhe darüber nachdenken, was du heute getan und welche Grenzen du übertreten hast."
Ein Schleier, der alles taub werden ließ, umhüllte mich. Nicht im Keller. Nicht nachts. Nicht im Dunkeln ...
Gerade wollte Großvater mich hineinschieben, da schnellte der Schleier zu Boden.
Ich schrie. „Nein! Nein! Bitte nicht!"
Panisch klammerte ich mich an ihn. An sein Jackett.
„Bitte nicht! Nicht die Nacht! Ich mache es auch nie wieder! Bitte!"
Es half nichts. Durch einen heftigen Stoß stolperte ich rückwärts ins Zimmer. Mit aller Macht schmiss ich mich wieder nach vorne ...
Gegen eine geschlossene Tür. Wie wild hämmerte ich gegen das Holz und rüttelte am Griff. Doch alles, was ich wahrnahm, war das klirrende Drehen des Schlüssels.
Nein. Bitte nicht ...
Er konnte doch nicht ...
Mein Hämmern versiegte, ohne dass ich es richtig mitbekam. Und wahrscheinlich hörte er es auch nicht mehr.
Ich war allein.
Dunkelheit umfing mich. Lediglich ein matter Schein fiel durch das vergitterte Fenster hinein. Doch bald würde auch dieser versiegen und alles stockfinster sein.
Mein Blick schnellte durch den kalten unverputzten Kellerraum.
Es gab keine Lampe. Keine Kerze.
Der Raum war, abgesehen von einer morschen Liege und einem uralten Holztisch mit Stuhl, leer und steinern.
Ich spürte, wie ich kurz vorm Hyperventilieren stand, da spürte ich etwas in meinem Rücken.
Mit zitternden Fingern griff ich nach hinten. Unter meine Bluse zum Rockbund.
Ich bekam etwas Glattes zu greifen. Noch bevor ich sehen konnte, was es war, wusste ich es.
Kierans Handy.
Das Display leuchtete mir entgegen wie ein rettender Leuchtturm. Kein Empfang, aber ein fast voller Akku.
Vor Dankbarkeit begann ich zu weinen und ließ mich gegen die steinerne Wand gelehnt nach unten gleiten.
Du schaffst das.
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Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...