Kapitel 10

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Erneut fuhren meine Finger über die Tasten. Erst sachte, dann beschleunigte ich mein Spiel.
Konzentriert versuchte ich jeden Anschlag präzise auszuführen.
Doch wieder erklang ein schräger Ton. Ein Ton, der nicht in die Notenabfolge passte. Dabei versuchte ich seit beinahe einer Stunde dieses Stück zu meistern. Die vielen Stunden an den Tagen zuvor zählte ich lieber nicht mit.
„Ich habe mich schon gefragt, wer hier so rumlärmt."
Ich blickte auf.
Kieran tauchte an der Tür auf und kam auf den Flügel zu.
„Haha", gab ich zurück. „Kann nicht jeder so ein Mozart sein wie du."
Kieran lehnte sich gegen den Flügel. „Oh, ich bin kein Wunderkind. Einfach nur harte Arbeit und Fleiß."
Ich legte den Kopf schräg. Das war gelogen. Gut, vielleicht war er kein Wunderkind. Eine Prise Talent war ihm dennoch in die Wiege gelegt worden. Davon war ich überzeugt. Oder eine Baggerschaufel.
Ich mühte mich seit Jahren mit dem Piano ab, während ihm jedes Stück beinahe mühelos von den Fingern glitt.
„Warum bin ich dann nicht so gut?" Ich stöhnte auf. „Ich übe mindestens doppelt so hart wie du."
Kieran grinste. „Fußball, nicht Klavier."
Er stellte sich neben den Schemel und warf einen Blick auf die Notenblätter. „Und bei ersterem bist du mir auch haushoch überlegen, Weltklassespielerin."
Ich musste schmunzeln. Vielleicht war er auch einfach nur grottenschlecht.
„Rutsch mal rüber."
Ich raffte den Rock der Schuluniform zusammen und rückte ein wenig zur Seite, woraufhin Kieran sich neben mir niederließ.
Als Kinder hatten wir mühelos beide auf den Hocker gepasst. Jetzt wurde es zunehmend enger.
„An welcher Stelle hakst du?"
„An welcher Stelle nicht?"
Sein Ausdruck wurde ernst.
Ich seufzte. „Ich habe mich bis hierhin vorgekämpft. Aber der Tastenanschlag ist zu schnell und meine Finger sind zu klein." Wehleidend hielt ich ihm meine Hand vors Gesicht.
Er griff sie und fuhr mit den Fingern prüfend über meine. Ein feines Knistern lief über meine Haut an den Stellen, die sie berührten.
Ich atmete tief ein. „Ich weiß, woher dein Talent kommt ..."
Für einen Moment wirkte er versunken in den Anblick unserer Hände. Und da war er wieder. Der Moment, der zu lange dauerte. Doch es fühlte sich weder unangenehm noch peinlich an. Etwas, das mich unruhig stimmte.
Rasch beschloss ich der angespannten Situation ein Ende zu setzen.
„Du hast riesige Pranken", scherzte ich.
Prompt ließ Kieran meine Hand los. „Ja genau. Das ist nicht Rachmaninov, Mari. Deine Patschhändchen reichen dafür vollkommen aus." Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.
„Sehr nett", murmelte ich und verengte meine Augen zu Schlitzen. Er wusste, dass meine Hände mein wunder Punkt waren. Ich hatte keine grazilen, schmalen Finger, wie gefühlt jedes Mädchen auf Insta oder TikTok. Mein waren im wahrsten Sinne des Wortes Patschhändchen. Dass meine Nägel stets kurzgehalten waren, trug auch nicht unbedingt zur Situation bei. Eventuell sollte ich wie Halima doch einmal Stiletto-Nails mit Gelmodellage probieren. Mit der Spitze erwischte ich dann vielleicht sogar die weit entfernten Tasten. Oder sie würden beim Anschlag abbrechen. Ich verzog das Gesicht.
„Das war ein Scherz. Du hast wirklich schöne Hände, Mari", kommentierte Kieran meinen Ausdruck. Seine Stimme klang weich und er war mir nah. Zu nah.
Ein plötzlicher Hitzeschauer wallte in mir auf. Bitte nicht schon wieder.
Kieran bemerkte meine Reaktion und rückte so gut es ging, ein Stück ab.
Mit trockener Stimme sagte er: „Okay, also deine Hände sind nicht das Problem. Lass einfach mal hören."
Wieder klar im Kopf setzte ich an und meine Finger glitten über die Tasten.
Natürlich griff ich daneben. Aber nur ein kleiner Patzer.
Fokussiert spielte ich weiter. Langsam lief es und ich glitt immer mehr in die Melodie. Wer sagte es denn ...
„Ich habe übrigens nach Wohnungen geschaut", riss es mich plötzlich aus meiner Konzentration.
Ein Haufen schräger Töne erklang.
„Keine Sorge", gab Kieran sachte zurück. „Für uns."
„Noch sind wir keine achtzehn", gab ich zu Bedenken.
Kieran warf den Kopf in den Nacken. „Aber bald. Und dann sind wir endlich frei."
„Sind sie sehr teuer?"
„Kommt ein wenig auf das Viertel an."
Mir wurde schwer ums Herz. „Meinst du Großvater gibt uns etwas dazu?"
„Ich will sein scheiß Geld nicht."
Ich knetete meine Finger. „Aber wenn wir es brauchen."
„Ich verdiene was bei dem Bauern." Kieran sah mich an. „Und du bei deiner Nachhilfe."
„Das ist fast nichts", mokierte ich. Vier Stunden die Woche. Wie sollte das für irgendetwas reichen.
„Wir könnten uns Jobs suchen."
„Oder du haust das Geld, das du für die geklauten Sachen von Großvater erhältst, nicht für Drogen und Partys raus."
Schweigen.
„Du könntest auch gar nichts klauen", flüsterte ich.
„Das schon wieder", kam es zurück.
„Es gefällt mir nicht, dass du ihn ständig provozierst. Wenn er doch ..."
„Mari", schnitt Kierans Stimme dazwischen. „Er wird gar nichts mehr tun. Dich nicht in den Keller zerren und mich ... er wird hier niemanden mehr bestrafen."
„Wie kannst du dir da sicher sein?"
„Weil ich ihm sonst mit seinem Stock jedes einzelne Glied zertrümmere." Einen Moment schien Kieran zu überlegen. „Vielleicht sollte ich das auch jetzt schon tun, dann ist endlich Ruhe im Karton ... und in diesem Haus."
Entsetzt sah ich ihn an. „Das ist nicht dein Ernst?"
„Verdient hätte er es."
„Das entscheidest du?"
„Wer sonst?"
„Ein Richter. Ein Gericht", warf ich ein.
„Das Thema hatten wir schon einmal. Niemand würde es uns glauben. Wie haben keine Beweise. Nicht mehr. Und wer weiß, vielleicht sind die Taten auch schon längst verjährt."
„Dann wird es dich erst recht ins Gefängnis bringen, wenn du ihn zusammenschlägst", mahnte ich.
Kieran strich sich übers Kinn. „Und wenn schon. Dann wären wir ihn endlich los und frei."
Ein verzweifelter Seufzer entfleuchte mir. „Wir wären überhaupt nicht frei. Du würdest im Gefängnis landen."
„Pardon", ergänzte Kieran sarkastisch. „Du wärst frei."
Dann wurde sein Blick ehrlich. „Das würde mir schon reichen."
Ein warmes Gefühl erfüllte meinen Bauch, aber ich rümpfte augenblicklich die Nase. „Wohl kaum, wenn ich dich jedes Wochenende im Gefängnis besuchen darf."
„Wir könnten es auch vertuschen und abhauen. Irgendwohin fliehen und dort frei von ihm sein", sinnierte Kieran und ich konnte ihm die Sehnsucht, von allem loszukommen, noch nicht einmal verdenken.
Nachdenklich knetete ich den Rock, sodass der Stoff immer weiter hochrutschte und unschöne Falten warf. „Denkst du das wirklich? Selbst wenn es dich nicht direkt in Haft befördern würde, glaube ich nicht, dass er so schnell aus unserem Leben getilgt wäre." Der Schatten des alten Mannes war lang, auch wenn er vielleicht irgendwann nicht mehr da war. Dessen war ich mir sicher.
„Und wie sollen wir uns dann deiner Meinung nach von diesem Monster befreien, meine kleine Pazifistin?", spottete Kieran.
„Nun ja", gab ich ernst zurück. „Wir könnten vielleicht jetzt damit anfangen. Uns Hilfe suchen und ihm nicht mehr so viel Raum und Macht geben, in dem was wir tun." Besorgt sah ich Kieran an. „Wenn du immer nur alles danach ausrichtest, ihn zu provozieren, wirst du niemals frei."
„Und wer in ständiger Angst vor ihm lebt, auch nicht."
Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Ja, ich hatte Angst. Verdammt viel Angst. Immer noch. Jeden Tag. Jede Nacht, die ich allein in meinem Zimmer lag.
Früher war ich zu Kieran ins Bett gekrochen. Oder er zu mir. Aber als wir irgendwann getrennte Zimmer hatten, taten wir dies nicht mehr.
Manchmal wachte ich schweißgebadet in der Nacht auf, nur um mit rettender Erleichterung festzustellen, dass ich in meinem Zimmer war und der Keller nur ein böser Alptraum. Dieser Keller. Dieser kalte, dunkle Keller.
„Es tut mir leid." Kierans Stimme wurde wärmer und er legte mir sanft die Hand auf den Kopf. Seine Finger fuhren liebevoll hinab, folgten dem Verlauf meiner wirren Strähnen. Es verursachte ein flüchtiges Kribbeln, das vom Kopf über meinen Nacken hinabwanderte.
„Denkst du, es wird irgendwann besser?", flüsterte ich.
Kieran blieb still.
Eine gefühlte Ewigkeit blieben wir so nebeneinandersitzen, bis Kieran seine Hand wegzog.
Dennoch verharrte er und erhob sich nicht.
„Ein Jahr. Dann sind wir hier raus", wisperte er.
Gedankenverloren begann ich ein paar Noten auf dem Klavier zu spielen. Sie klangen abgehackt, die Melodie unvollendet, bis ich es aufgab.
„Sind deine Haare eigentlich länger geworden?"
Überrascht über den Themenwechsel schaute ich auf.
Kieran musterte mich und seine Finger umgriffen eine Strähne.
„Ein wenig", bemerkte ich. „Ich muss sie wieder schneiden lassen." Meine Haare ragten bis knapp über die Schultern. Auch wenn ich mir längeres Haar erträumte, blieb es hier unerwünscht. „Zu dick, um es ordentlich zu halten", hatte Großvater geurteilt.
„Das musst du nicht."
Ich schaute auf. „Sagst du."
Kieran zog sanft an der Strähne, sodass ich mit dem Kopf ein Stück näher an ihn rückte.
Die Distanz zwischen uns schrumpfte zusammen und ich konnte nichts dagegen tun, dass mein Herz schneller zu klopfen begann. Zu nah. Es war viel zu nah. Doch dieses Mal konnte ... nein, wollte ich die Nähe und knisternde Stimmung zwischen uns nicht brechen. Dafür fühlte es sich zu kostbar an.
Gerade öffnete Kieran seinen Mund, um etwas zu sagen, da ertönten Schritte vom Flur.
Sofort löste sich die Nähe zwischen uns auf und das Band riss. Es versetzte mir einen Stich.
Ein Husten erklang.
„Alter Scheißer im Anmarsch." Kierans Kiefer knackte.
Keine fünf Sekunden später betrat Großvater den Salon.
Automatisch richtete ich mich auf, straffte den Rücken und spürte, wie sich jeder Muskel in meinem Körper anspannte.
„Übt ihr fleißig Klavier?", fragte er, ohne uns eines Blickes zu würdigen und lief zu der Sofalandschaft.
„Kieran hilft mir mit einem Stück", antwortete ich ein paar Takte lauter, damit er mich hören konnte.
Dieser saß neben mir und starrte finster zum Sofa rüber.
„Sehr schön", kam es zurück. Erneut wollte er etwas sagen, aber ein Hustenanfall vereitelte den Versuch.
Unwohl rutschte ich auf dem wenigen Platz herum, den Kieran übrigließ.
„Soll ich dir ein Glas Wasser holen?" Gerade wollte ich mich erheben, als eine Hand sich blitzschnell auf meinen nackten Oberschenkel legte und diesen nach unten drückte.
Ich blinzelte zu Kieran, dessen Blick noch immer auf unseren Großvater geheftet war.
„Ich denke, der alte Herr weiß, wo er sich selbst ein Glas Wasser holen kann."
Der Hustenanfall ebbte ab und verfiel in einen abschätzigen Ton. „Ach Kieran, deine pubertären Kommentare kannst du dir sparen."
„Ich bin nicht mehr in der Pubertät, falls du es bemerkt hast", zischte dieser. „Aber vielleicht ist das ein Zeichen von Demenz?"
„Ironie ist das Mittel der Schwachen und Dummen", murmelte Großvater und schniefte in ein weißes Tuch.
Kierans Finger krallten sich stärker in mein nacktes Fleisch. „Willst du gerne einmal nachprüfen, wer hier der Schwächere ist?"
Großvater stieß ein belustigtes Grunzen aus. „Ich lasse mir nicht in meinem eigenen Haus drohen. Und schon gar nicht von jemandem, der wie ein bedürftiges Kalb an meinen Geldzitzen hängt."
Ein flaues Gefühl erfüllte meinen Magen. Zum einen, weil es ein äußerst verstörender Vergleich war. Zum anderen durfte die Stimmung nicht kippen.
„Hier muss doch niemand jemanden drohen", beschwichtigte ich und spürte, wie die Finger sich von meinem Oberschenkel lösten. Kurz trauerte ich ihrer Wärme nach, zog dann jedoch schnell meinen Rock über die Knie.
„Kieran hat mir übrigens auch noch bei einem weiteren Stück geholfen", lenkte ich unbeholfen vom Thema ab. „Wir haben das Ganze sogar als Duett geübt."
„Na, dann lasst doch mal hören, Kinder." Großvater schlug die Beine übereinander.
„Bestimmt nicht, alter Spinner", raunte Kieran und wollte sich erheben.
„Deine Wortwahl ist wirklich unterirdisch", meckerte Großvater. „Aber gut, Marisol, du kannst das Stück bestimmt auch wundervoll allein spielen."
Auch wenn es wie ein Kompliment klang, war es eine Drohung.
Dieses Mal war ich es, die sich an Kieran krallte. Meine Nägel bohrten sich in seinen Unterarm. Ich wollte unter keinen Umständen allein mit Großvater hier zurück bleiben.
Als Kieran meinen flehenden Blick bemerkte, ließ er sich mit einem Seufzen neben mich gleiten.
Dichter als zuvor.
Meine Finger blätterten durch die Notenblätter, bis ich an besagter Stelle angekommen war.
Behutsam stimmte ich die ersten Takte an.
Kieran folgte.
Ich im tiefen Bereich.
Er im hohen.
Konzentrier dich, befahl mir die vertraute innere Stimme. Konzentrier dich oder ... oder ...
Mit einem Mal erklangen unbekannte Töne. Töne, die nicht in das Stück gehörten.
Bitte nicht schon wieder.
Ich warf einen Blick zur Seite. Kieran hatte die Augen geschlossen und ich spürte sofort, dass er nicht mehr in dieser Welt war.
Eigentlich sollte es mich ärgern, dass er sich nie an mich anpasste, mit meinem Spiel harmonierte. Er riss das Stück an sich.
Doch ich konnte nicht wütend sein.
Ich war gefangen davon, wie leicht und nahezu mühelos seine Finger über die Tasten flogen. Als ob die Noten aus einer anderen Welt zu ihm und dann durch seine Finger auf die Klaviatur flossen. Ein erfreutes Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus und ich konnte nicht anders als lächeln.
Er war so in seinem Element. Seine linke Hand löste sich und er spielte einhändig.
Ich versuchte zu folgen. Doch leider konnte ich nicht in seinen Kopf schauen. Und langsam verflog das warme Gefühl und verzweifelt versuchte ich, mich an sein Tempo, seinen Takt anzupassen.
Eine schiefe Note.
Mist.
Mittlerweile waren meine Augen auf das Notenblatt fixiert. Doch es half nichts. Was dort stand gab keine Auskunft darüber, was Kieran zu spielen gedachte.
Ein weiterer Schnitzer.
Noch einer.
Frustriert zog ich meine Finger zurück.
Augenblicklich öffnete Kieran seine Augen und blickte zu mir.
Ich zuckte mit den Schultern und sein Blick wurde weich und entschuldigend. Langsam ließ er das Stück ausklingen.
Ein Räuspern ertönte von der Couch.
Wir beide blickten zu Großvater, der uns angesäuert musterte. Es war nicht gut genug gewesen. Natürlich war es das nicht. Allerdings war es nie gut genug für ihn. Sein Blick ging mir durch Mark und Bein. Es brauchte keine mahnenden Worte. Es war ein Blick, der so von Enttäuschung getränkt war, dass es nichts Weiteres bedurfte, um mich wie der nutz- und wertloseste Mensch auf dieser Welt zu fühlen.
Mit einmal änderte sich die Melodie. Kein fließender Übergang, Kieran hatte abrupt das Stück gewechselt.
Seine Finger schnellten über die Tasten, während er unseren Großvater anstarrte.
Ich rückte ein wenig zur Seite. Ein Schauer kroch mir den Rücken hoch. Es war ein schweres Lied. Ein Lied wie damals, als ich noch neu in diesem Haus war.
Großvater erhob sich. „Du machst dich lächerlich, Kieran."
Ich schaute ihm hinterher, wie er hinauslief.
Im Türrahmen blieb er stehen. „Wenn du schon provozierst, solltest du wenigstens die innere Stärke dazu besitzen und nicht wie ein kleines Mädchen herumweinen."
So unbrauchbar wie damals", nuschelte er und verschwand.
Verwirrt blinzelte ich zu Kieran.
Erst jetzt sah ich, dass seine Augen gerötet waren und im warmen Tageslicht feucht glänzten.
„Was ist los?", hauchte ich und griff sanft nach seinem Arm.
Sofort erlosch die Musik und es wurde still.
Seine Schläfen spannten sich an und ich sah, wie er mit sich kämpfte. Wie immer.
Weinen tat er nur allein im Badezimmer und fast nie vor mir. Die Male, die es in all den Jahren vorgekommen war, konnte ich an beiden Händen abzählen.
„Was ist los?", flüsterte ich und legte meinen Arm um ihn.
Das Knacken seines Kiefers war zu hören.
„Es ist okay. Du musst dich nicht zurückhalten." Es trieb mir selbst die Tränen in die Augen ihn so traurig und verletzt zu sehen. „Manchmal kann man auch einfach loslassen und weinen."
Kurz presste er die Lippen aufeinander. „Es ist eines der Lieder, die auf der Beerdigung meiner Mutter gespielt wurden."
Ich lehnte meine Stirn gegen seine Schulter. Nahm es denn nie ein Ende?
„Das tut mir so leid."
„Es war das Lied, das ich spielen sollte", erwiderte er mit gepresster Stimme.
Ich schaute auf.
„Er wollte, dass ich es während des Trauergottesdiensts spiele." Kieran starrte über den Flügel hinweg zu der Stelle, an der Großvater kurz innegehalten hatte, bevor er gegangen war.
„Zwei Takte habe ich geschafft, dann habe ich geheult wie ein Schlosshund. Den ganzen Gottesdienst lang."
Ich krallte meine Finger in sein Hemd. „Und dazu hattest du doch auch alles Recht."
Kierans Muskeln spannten sich an. „Sie lag direkt neben mir. Direkt neben mir in diesem offenen Sarg. Wie sollte ich denn ... wie sollte denn irgendjemand ..."
Die Dämme brachen.
Mitgerissen schlang ich meine Arme um ihn und er tat es mir gleich.
„Du hast nichts falsch gemacht", flüsterte ich in sein Hemd.
„So fühlt es sich aber nicht an", kam es gedämpft durch meine Bluse zurück.
„Ich weiß. Aber du ... wir haben nichts falsch gemacht. Wir haben nichts falsch gemacht", wiederholte ich. Es waren die Worte, die ich mir immer sagte. Worte, die Mei und Banu mir gesagt hatten, als sie erfahren hatten, was hier vor sich ging.
Jeden Abend echoten sie in meinem Kopf, doch Wurzeln schlugen sie nie. Sie waren flüchtig und verschwanden und machten den Worten Platz, die so viel tiefer wurzelten, dass ich fürchtete, sie niemals mehr ausreißen zu können.
Du hast alles falsch gemacht.
Du bist ein schlechter Mensch.
Ich bin ein schlechter Mensch.
Ich bin nicht gut genug.
Ich verdiene es, bestraft zu werden.
Ich habe alles falsch gemacht ...
Mit jedem dieser Worte, das sich in meinem Kopf zementierte, krallte ich mich mehr an Kieran. Auch wenn ich nicht in seinen Kopf schauen konnte, wusste ich, dass es ihm genauso ging. Wir klammerten uns aneinander. Wie immer. Gemeinsam allein in diesem lichtdurchfluteten Zimmer in diesem dunklen Haus.

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⏰ Letzte Aktualisierung: 18 hours ago ⏰

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