Kapitel 3

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"Wer bist du denn?" Das Mädchen vor mir verschränkte ihre Arme und legte den Kopf schräg, sodass ihr langer blonder Zopf zur Seite fiel. Kurz blieb mein Blick an diesem hängen. Ihr Haar war wie glänzendes Silber oder ein ganz helles Gold. So glatt und seidig, dass man den Kamm oben ansetzen und dieser widerstandslos hindurchsegeln würde. Bei meinem Schopf hatte es heute Morgen fünf Ansätze gebraucht, bis ich endlich durch die filzigen Stellen durchgekommen war. Kein Wunder. Noch immer wälzte ich mich die Nächte in dem laut raschelnden Bettbezug umher. Noch immer weinte ich in mein Kissen – mal leiser, mal lauter. Noch immer blieb es still.
Dabei wusste ich mittlerweile, dass mein Zimmergenosse noch wach war. Ich hatte mich an seine Art zu Atmen gewöhnt und wusste ganz genau, wann er tief schlief oder hellwach war. Oder wenn er kurz vorm Einnicken war und ihn plötzlich etwas aufschrecken ließ.
Das war aber auch alles, was ich über Kieran wusste. Meinen Zimmergenossen. Auch wenn Großvater immer wieder von Geschwistern, von Bruder und Schwester redete, war dem nichts ferner. Er war noch nicht mal ein Freund. Dementsprechend dankbar war ich für meinen ersten Schultag.
Endlich ein anderes gleichaltriges Gesicht. Auch wenn mich das Mädchen und ihre drei Freundinnen, die vor meinem Tisch eine Mauer bildeten, geradezu unangenehm inspizierten, war es besser als ignoriert zu werden.
"Marisol. Ich bin neu hier", antwortete ich und versuchte mich ein Stück aufrechter auf meinem Stuhl hinzusetzen.
"Marisol." Das Seidenhaar-Mädchen nickte fachmännisch. "Das ist ein komischer Name."
"Du siehst aus wie unsere Putzfrau." Ein Paar dunkelbrauner Augen musterte mich. Ihre Trägerin hatte die gleichen Seidenhaare wie das andere Mädchen, nur in schwarz.
"Meiiii." Ihre blonde Freundin schüttelte den Kopf. "Sie ist doch nicht so alt."
"Nee, aber so vom Aussehen." Wieder fixierte Mei mich. "Sie heißt Juanita. Kennst du sie?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Schade, sie macht echt leckere Teigtaschen."
"Meiiii."
"Was denn?", quäkte es zurück.
Es folgte ein Kichern der beiden Mädchen, die am Rand standen und komplett identisch aussahen.
"Also Marisol, ich bin Lilia", stellte sich das blonde Mädchen, das nach meinem Namen gefragt hatte vor. Dann deutete sie neben mich. „Und das ist, wie du schon gehört hast, Mei."
"Meiiii", folgte es unisono von beiden identisch aussehenden Mädchen im Singsang.
"Und das sind Halima und Banu. Sie sind Zwillinge", erklärte Lilia.
"Ich glaube, das kann sie sehen." Eine der Zwillinge verdrehte die Augen.
"Jaja." Lilia winkte ab. "Wo warst du denn vorher, Marisol?"
Ich schluckte. Kurz überlegte ich zu lügen. Obwohl wir alle die gleiche Uniform trugen, eine weite helle Bluse und einen dunkelgrünen Faltenrock, fielen mir sofort die Perlenohrringe von Mei, die goldenen Halsketten von Halima und Banu und die Schuhe von Lilia auf. Es waren nagelneue, schwarze, glänzende Lackschuhe mit goldenem Emblem von einem Designer, den ich nicht kannte. Sie waren mindestens so reich wie meine neue Familie.
"Im Heim", nuschelte ich.
"Waaas?" Meis Mund klappte auf.
Beschämt blickte ich zu Boden.
"Das ist ja mega krass." Ich hörte, wie ein Stuhl verschoben wurde und direkt danach weitere. Als ich aufschaute, war ich umringt von den Mädchen, die sich neben mir niederließen.
"Wie war es da?"
"Wieso warst du da?"
"Was ist mit deiner Familie?"
"Gab es da auch so gefährliche Gangsterkinder?"
Mühevoll versuchte ich den Schwall an Fragen zu beantworten, während ich mir wie ein Zirkuspferd in der Manege vorkam.
"Und wieso bist du jetzt hier?"
Ich schaute zu Mei. "Ich ... ich wurde adoptiert."
"Ach hör auf." Lilia winkte ab.
"Von wem?" Halima klimperte neugierig mit den Wimpern.
"Ein älterer Mann. Herr Delorean. Er will, dass ich ..."
"Nein?", rutschte es Halima heraus.
Auch Mei riss die Augen auf. "Laber doch nicht."
"Der Großvater von Kieran?"
Nervös zwirbelte ich den Stoff meines Rocks. "Ja, wieso? Ist das schlimm?"
Kieran ging auf diese Schule, aber nicht in meine Klasse. Kaum hatte der Chauffeur uns rausgelassen, war er davon gestürmt.
"Der ist voll schlimm."
"Meiiii."
"Ja, ist doch so", fuhr diese energisch fort. „Erzähl ihr mal von dem Vorfall, bei dem euer Bruder dabei war. Also in der anderen Klasse." Mei zog an dem Blusenärmel von Banu, die gedankenversunken in die Leere gestarrt hatte.
"O ja, erzähl das mal."
"Ich kann das auch erzählen", kiekste Halima. "Er ist bei Kieran in der Klasse und das war im ... im ... Englischunterricht."
"Mathe", korrigierte Banu.
"Ja, Mathe, sag ich ja." Halima überlegte kurz. "Auf jeden Fall wusste er die Lösung einer Aufgabe nicht und der Lehrer hat ihn dafür ausgeschimpft."
"So war das gar nicht." Banu stöhnte auf. "Er sollte an die Tafel und seine Hausaufgaben anschreiben, aber wollte nicht. Der Lehrer meinte dann, dass er verstehen könne, dass es aktuell schwierig ist und ..."
"Ja, weil seine Mutter tot ist", fuhr Halima dazwischen.
Ein Stechen durchzuckte meinen Bauch.
"Das ist schon krass." Mei nickte.
Lilia tat es ihr gleich. "Ich bin froh, dass meine nur getrennt sind."
"Ich wünschte meine wären getrennt", gab Mei mit einer Stimme zurück, als sei sie achtzig.
Ich wünschte meine Eltern wären ... auch nur getrennt.
"Jedenfalls." Banu funkelte ihre Freundinnen wütend an. "Der Lehrer wollte, dass Kieran am Ende des Unterrichts einmal zu ihm kommt. Er meinte dann, er soll sich das ..." Banu stockte.
"Was soll er?", rutschte es mir neugierig raus.
Lilia beugte sich zu mir rüber und flüsterte mit vorgehaltener Hand: "In den ... Popo schieben."
"Arsch", tönte Mei. "Er sagte Arsch."
"Meiiii", kam es schockiert im Chor zurück.
Ich musste lächeln. Zuhause hätte Kieran sich das bestimmt nicht getraut. Wobei er öfters mit Großvater aneinander rasselte. Letzterer tat mir dann immer leid. Großvater war zwar etwas streng, aber er gab sich wirklich Mühe.
"Was denn?" Mei spielte an einer Strähne herum. "Es gibt noch viel schlimmere Wörter. Fuck zum Beispiel. Oder Kackscheiße ..."
"Oder Fickscheiße", murmelte ich.
"Marisooool", erntete ich dieses Mal den Chor der Empörten.
"Genau." Mei lachte und hielt mir die Hand zum High Five hin.
Mit einem zaghaften Lächeln klatschte ich ein.
"Jedenfaaaalls." Banu räusperte sich. "Er sollte dann zum Direktor und ist auch aufgestanden, aber anstatt zur Tür zu gehen ..."
"Er hat seinen Stuhl gegen die Wand geworfen", fuhr Halima aufgeregt dazwischen.
Ich schlug meine Hand auf den Mund.
"Ich wollte das erzählen", nörgelte Banu.
"Wirft er zuhause auch öfters Stühle herum?", fragte Mei.
"Hat er schon einmal etwas auf dich geworfen?", hakte Lilia nach.
"Nein." Ich schüttelte den Kopf. "Nein ..."
"Aber?" Mei musterte mich neugierig.
"Nichts aber", antwortete ich. "Er ist immer sehr ruhig und sagt nicht viel." Zu mir zumindest.
"Denkt ihr unser Großvater weiß etwas davon?" Mein Rock hatte mittlerweile einen Haufen Falten dazugewonnen.
"Unser Großvater?" Halima hob eine Augenbraue.
"Man, sie ist doch adoptiert und jetzt Kierans Schwester." Mei trommelte ungeduldig auf der hölzernen Tischplatte, auf der nicht nur einmal das böse Wort mit F eingeritzt worden war.
Sie könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt liegen.
"Auf jeden Fall weiß euer Großvater das", erklärte Lilia. "Das ist eine sehr vornehme und gute Schule hat meine Mama gesagt. Solches Verhalten dulden sie nicht."
"Unser Bruder hat das auch unseren Eltern gesagt und die haben sich auf jeden Fall bei der Schule beschwert", ergänzte Banu.
"Das ist ja auch gefährlich", stimmte Halima mit ein.
"Hm." Ich versuchte das Bild eines tobenden Kieran in Einklang mit dem Kieran zuhause zu bringen.
"Aber seitdem ist ja auch nichts mehr passiert", murrte Mei, fast schon enttäuscht, und ließ ihren Kopf auf ihre Arme auf der Tischplatte sinken.
"Wann war das?", fragte ich.
"Vor drei oder vier Monaten."
Automatisch biss ich mir auf die Innenseite meiner Wange. Vor vier Monaten war Großvater das erste Mal bei uns im Heim gewesen und hatte mit mir gesprochen. Von allen Kindern hatte er sich zu mir gesetzt. Dabei war ich schon älter. Normalerweise setzten sich die zu Besuch kommenden Erwachsenen immer zu den jüngeren. Aber er nicht. Fast eine Stunde war er dagewesen und hatte mit mir geredet.
"Hast du jetzt Angst vor ihm?" Lilia schaute besorgt drein.
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht ... Eigentlich kann ich es gar nicht so glauben."
"Warum?", fragte Halima.
Erneut wanderten meine Schultern nach oben und plumpsten wieder runter.
Mein Blick fiel auf die aufgehängten Bilder an der Wand. Es waren gemalte Bilder der Schülerinnen und Schüler, die sie bei ihren Hobbies zeigten. Ein Klavier streifte meinen Blick.
"Ich höre ihn manchmal Klavier spielen ..." Gut, ich lauschte nicht nur, sondern schielte manchmal auch ins Zimmer hinein. Zuerst hatte ich gehofft, etwas aufschnappen zu können. Allerdings konnte ich nie mehr sehen als den Flügel und seinen blonden Schopf. Und ein genervtes Gesicht, das irgendwann die Klappe runterschlug. Einen Moment verharrte er immer, dann erhob er sich und ich lief auf leisen Sohlen davon.
"Hä? Was hat das damit zu tun?" Mei war wieder hochgefahren.
"Ich weiß nicht", gab ich zurück. "Aber jemand der so gut Klavier spielt, kann doch nicht so schlimm sein."
Ein theatralisches Lachen entfuhr ihr. "Ach Marisol." Sie klopfte mir auf die Schulter. "Mein Bruder ist der beste Violinen-Spieler der Welt und er hat ständig Geschirr runtergeschmissen beim Essen. Meine Eltern haben ihn dann in eine Therapie gesteckt, dann ging's besser."
"Therapie?" Ich erinnerte mich dunkel an die Gespräche mit unseren Pädagogen im Heim. Die Gespräche, in denen es nicht um Hausaufgaben und Streit mit anderen Kindern ging, sondern um Familie. Familie, die man nicht mehr hatte.
"O ja, unsere Cousine ist auch in Therapie", bestätigte Halima. "Sie war nicht so gut in der Schule und ..."
"ADHS", ergänzte Banu. "Sie hat ADHS und nimmt jetzt Medizin."
"ADHS?", wiederholte ich. "Denkst du Kieran hat das auch?" Ich mochte es nicht, seinen Namen auszusprechen. Es verursachte mir Bauchschmerzen. Vor allem, wenn er auch dieses ADHS hatte und Medizin brauchte. Wie sollte ich an diese kommen und mein Versprechen einhalten?
Banu schüttelte den Kopf. "Nein, er hat, wenn dann ein Aggressionsproblem."
"Wie Meis Bruder."
Mei nickte. "Ja, vielleicht solltest du ihn mal fragen."
„Deinen Bruder?" Banu legte den Kopf schräg.
„Nein." Mei schüttelte den Kopf. „Kieran."
Entsetzt sah ich sie an. "Ihn fragen?"
"Ja, vielleicht macht er auch schon eine Therapie", hakte Lilia ein. "Du könntest ihn fragen."
"Ja." Halima beugte sich zu mir rüber und zog an meinem Blusenärmel. "Das ist wichtig. Es geht um unsere Sicherheit."
"Er ist doch gar nicht in unserer Klasse", merkte Banu an.
"Vielleicht wird er versetzt."
"Wieso sollten sie das tun?", fragte ich. Ich wollte ihn auf keinen Fall auch noch in der Schule sehen. Zu viel Bauchschmerzen.
"Naja." Mei legte den Arm um mich. "Zur Strafe ..."
Strafe ... Großvater hat das Wort einmal in den Mund genommen. Nachdem Kieran beim Frühstück mit verschränkten Armen dagesessen, keinen Bissen gegessen und ihn als „alten Vollidioten" bezeichnet hatte. Allerdings hatte ich keine Strafe folgen sehen. Kein Stubenarrest, kein Fernsehverbot.
"Aber wieso sollte das eine Strafe sein, versetzt zu werden?", fragte ich.
Alle vier Mädchen senkten bedröppelt den Kopf.
"Weil wir die schlechteste Klasse unserer Stufe sind", nuschelte Lilia.
"Die allerschlechteste", kommentierte Mei.
"Die Idiotenklasse", fügten Halima und Banu im Chor hinzu.

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Echoes in TimeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt