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Low Bay, North Carolina. Mein neues Zuhause. Das Haus sah immer noch genauso aus wie vor drei Monaten, als ich letztes Mal zu Besuch war. Der Weg zur Veranda wurde von Rosenbüschen gesäumt. Daneben ein kleiner Garten, dort hatten wir oft gespielt. Heute sah er verwildert aus. Man sah ihm an, dass sich seit Wochen niemand mehr darum gekümmert hat. Die hellblaue Tür öffnete sich und meine Tante kam heraus. Ihr sonst so fröhliches Gesicht, war von den Tränen ganz fleckig. Es musste schlimm sein ein Kind zu verlieren. Ich möchte mir gar nicht vorstellen wie schrecklich es sein musste. Ich muss bei Filmen ja schon so heulen und das ist ja nie wirklich passiert. Ihre blonden Haare hingen strähnig bis auf ihre Schultern. Sie war wie an der Beerdigung ganz schwarz gekleidet. Man sah ihr an, dass sie die Freude am Leben verloren hatte. Sie rang sich ein Lächeln ab um uns zu begrüßen. Sie schritt die Verandatreppe hinunter auf uns zu. Sobald sie in meiner Reichweite war umarmte ich sie fest. „Ich bin froh, dass ihr da seid." flüsterte sie mir mit tränenerstickter Stimme ins Ohr. Sie ließ mich los bevor ich etwas erwidern konnte und schloss meine Mom in die Arme. Ich ging zum Kofferraum und nahm unsere Koffer heraus. Wir hatten nicht viel mit her genommen. Wir zogen direkt bei Desiree ein damit sie in der schweren Zeit nicht so allein ist. Nächste Woche ist der Gerichtstermin, um dieses Arschloch hinter Gitter zu bringen, der Autumn ermordet hat. Ich habe keine Ahnung wie er aussieht, wie alt er ist oder wieso er es getan hat. Ich weiß nur, dass er dafür angeklagt wurde, weil er da war und das ist für mich Beweis genug. Ich will Vergeltung, nichts als Vergeltung. Desiree und Mom lösten sich voneinander. „Kommt rein, ich zeige euch eure Zimmer. Das Abendessen ist auch schon fertig. " sagte meine Tante und ging zurück ins Haus, meine Mom hinterher. Ich blickte zum Himmel. Tatsächlich die Sonne war bereits dabei unterzugehen. Ich hatte gar nicht bemerkt wie spät es inzwischen geworden war. Schnell ging ich den Beiden nach, durch die Tür. Vom Flur gingen drei Türen weg. Links die zur Küche und zum Esszimmer, rechts die zum geräumigen Wohnzimmer und geradeaus zu einem kleinen Badezimmer. Rechts neben dem Badezimmer war eine hölzerne Treppe, der ich Desiree in den oberen Stock hinauffolgte. Der Gang erstreckte sich auf beide Seiten. Links war Desiree's Schlafzimmer, das Badezimmer und Mom's neues Zimmer. Rechts war meines und das von Autumn. Desiree ging in Richtung meines neuen Zimmers. Ich hinterher. Als ich an Autumn's Zimmer vorbei ging wurde ich langsamer. Die Tür war immer noch mit Fotos, Konzertkarten, Postkarten und sonstigen kleinen Erinnerungen verziert. Niemand hatte es aufgeräumt. Es ist als würde jeden Moment die Tür aufgehen und Autumn fröhlich singend heraushüpfen. Das wird aber niemals wieder so sein... Ein Foto stach mir besonders ins Auge, es wurde in den letzten Ferien gemacht als sie bei mir zu Besuch war. Wir saßen im Garten in der Hängematte und lachten. Ihre blonden Locken so perfekt gestylt wie immer und die blauen Augen fröhlich strahlend. Ich sah auch glücklich aus. Meine mittelbraunen Haare gingen mir bis zum Brustansatz und standen in so ziemlich alle Richtungen ab. Ich konnte sie noch nie bändigen. Auch meine braunen Augen blitzten nur so vor Freude. Im Gegensatz zu ihr bin ich hässlich. Sie war einfach perfekt, ich war und bin immer noch unscheinbar. Ich bin nicht wirklich dünn aber auch nicht dick. Ich bin nicht direkt hübsch aber auch nicht hässlich. Eben totaler Durchschnitt. War ich schon immer. Kein Wunder, dass sich keine Jungs für mich interessieren. Nie interessieren werden. Ihr sind immer alle hinterhergelaufen. Ziemlich witzig wenn sie nach einer Woche total genervt bei mir angerufen hat um sich über sie zu beschweren.

Schnell nahm ich das Foto von der Tür und ging weiter. Desiree war bereits vor meinem Zimmer zum Stehen gekommen. „Stell deine Sachen ab und komm dann runter. Ich hab Lasagne gemacht." Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. Ich trat in mein neues Zimmer ein. Es klingt vielleicht komisch, aber ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass hier noch ein Raum war. Er war ziemlich geräumig. Gegenüber der Tür stand ein dunkelbraunes Doppelbett. Daneben zwei Nachttische mit jeweils einem Lämpchen. Rechts neben der Tür stand ein großer Kleiderschrank. Zu groß für mich, so viele Klamotten habe ich gar nicht. Links unter dem Fenster stand ein großer Schreibtisch und in einer Nische daneben ein großes Bücherregal. Die Wand mit dem Bett ist flieder gestrichen, der Rest weiß. In der Mitte des Raumes lag ein lila Teppich, der einen guten Kontrast zu dem dunklen Boden bietet. Ich schmiss meinen großen Koffer und meinen Rucksack aufs Bett. Schon traurig, dass mein ganzes Leben in einen einzigen Koffer passte. Ich legte das Bild auf den Nachtisch. Nachher würde ich einen leeren Bilderrahmen dafür suchen. Dann ging ich runter ins Esszimmer. Dort fand ich meine Mom und meine Tante Desiree vor. Sie sagten kein Wort. Sie schwiegen sich bloß an. Als ich mich hinsetzte sahen sie mich an. Der Verlust von Autumn hat ein tiefes Loch in unsere Familie gerissen. Es gab nur mich, Autumn, meine Mom und Desiree. Autumn's Dad war gestorben als sie drei war. Unsere Großeltern hatten wir nie kennengelernt und unsere Mütter hatten keine Geschwister. Ob mein Dad Geschwister hatte, wusste ich nicht, das war mir aber ehrlich gesagt ziemlich egal. Ich nahm mir ein Stück Lasagne und fing an zu essen. Ich bemerkte wie mir meine Mutter etwas herüber schob. Es war mein Reisepass den sie für unseren Flug gebraucht hatte. Ich starrte ihn bloß an.

‚Yuna Airin Dearing, geboren am 27.01.1999'

Ja genau. Ich heiße Yuna. Meine Mom hatte mal so eine japanische Phase und das ausgerechnet kurz bevor ich geboren wurde. Ich wurde oft aufgezogen für diesen Namen, einfach nur weil er so außergewöhnlich war. Ich persönlich fand ihn nicht so schlimm. Klar fragte ich mich manchmal wieso sie das getan hatte, aber naja ich kanns ja nicht ändern.

Das restliche Essen verlief genauso, wie es angefangen hatte. Still.

Ich ging zurück in mein Zimmer um meine Sachen auszupacken. Ich räumte meine wenigen Klamotten in den Schrank. Wie ich schon vorraus gesagt habe, hatte ich viel mehr Platz als ich eigentlich brauchen würde. Das Bücherregal reichte gerade so. Lesen war eines meiner wenigen Hobbys. Okay es war mein Einziges. Ich hing noch einige Fotos über meinem Bett auf. Ich fand sogar noch einen leeren Bilderrahmen. Ich rahmte das Bild von Autumn und mir ein, und stellte es zusammen mit meinem Wecker auf den Nachttisch. Ich schaute auf die Uhr. Es war schon 22:00 Uhr. Ich nahm mir eine kurze Stoffhose, ein Top und meine Zahnputzsachen und ging ins Bad. Schnell ging ich duschen, putzte mir die Zähne und zog mich an, dann ging ich in mein Zimmer zurück.

Morgen war mein erster Schultag. Ich habe mich auf der Low Bay High angemeldet. Sehr kreativer Name, ich weiß. Es gab zwei Highschools. Die Low Bay High und die Highschool of Low Bay. Fragt mich nicht wieso, die sind für mich ziemlich ähnlich. Autumn ging auf die Highschool of Low Bay, deshalb wollte ich auf die Low Bay High. Dieses ganze ‚mein Beileid'-Getue gingen mir auf den Keks. Sie haben ja keine Ahnung wie das ist, einen der wichtigsten Menschen in seinem Leben zu verlieren. Ich kannte dort keinen und ich konnte auf die ganzen falschen Freunde, die nur aus Mitleid was mit mir zu tun haben wollten, verzichten. Auf der LBH wird alles so sein, wie es an meiner alten Schule war. Ich war die unsichtbare Schülerin, an die sich keiner erinnern konnte und überhaupt wusste, dass sie auf derselben Schule war. Ich möchte alleine sein. Alleine trauern. Das ist dann wohl der Vorteil von allen übersehen zu werden.

Ich habe schon letzte Woche die Formulare für meine Kurse ausgefüllt. Ich werde in die 10. Klasse gehen. Die Schule hat echt tolle Kursangebote. Ich habe mich für Französisch und Spanisch und Musik als Wahlfach entschieden. Nachmittags gibt es noch Clubs. Ich denke eher nicht, dass ich einen wählen werde. Dann hätte ich doch noch mit Menschen zu tun und ich will wirklich nicht bemerkt werden. Meine Mom wird mich morgen hinfahren. Ich hab noch keinen Führerschein und ich werde ihn in nächster Zeit auch nicht machen. Entweder fährt mich meine Mom immer hin oder ich muss mit dem Bus fahren.

Ich legte mich in mein Bett, und deckte mich zu. Ich nahm mein Handy und machte etwas Musik an. Gerade als ich die Augen schließen wollte ging meine Tür auf. Ich sah hin und sah die Umrisse meiner Tante. Sie trat auf mich zu und kniete sich vor mich hin. Wir starrten uns einfach nur an. Sie nahm meine Hand, legte etwas hinein und verschloss sie wieder. „Sie hätte gewollt, dass du es bekommst. Gute Nacht." Sie drehte sich um und ging. Als ich das Geräusch von zwei zuschlagenden Türen hörte, machte ich das kleine Licht an und öffnete meine Hand. Darin lag ein Armband. Ein silbernes, feines Armband mit einem zarten Notenschlüssel als Anhänger. Es gehörte Autumn, sie hat es nie abgenommen. Sie hatte es von ihrem Dad bekommen als sie klein war. Kurz bevor er starb. Es war so groß, dass sie es erst mit 13 tragen konnte. Seitdem hat sie es keinen Tag abgenommen. Es ist das schönste Geschenk, das mir jemand machen konnte. Und mit diesem Gedanken schlief ich ein.

How to save a life - Gebrochenes Versprechen *ON HOLD*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt