Kapitel 6 // Ben

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Kapitel 6 // Ben

Mein Ausgangspunkt war das Mädchen. Sie musste ich finden, damit sie mir zeigen konnte, wer ihr den Umschlag überreicht hatte.

Dumm nur, dass ich weder ihren Namen wusste, noch ihre Klasse, also keine wirklichen Fakten, die mir dabei hätten behilflich sein können sie zu finden.

Wie gut, dass ich mit meinem Computer im Redaktionsraum Zugang zu allen Schulbereichen hatte. Zugänge, die ich nun brauchen würde.

Ich begann mit den Klassenfotos der Unterstufe. Irgendwo musste dieses Mädchen doch zu finden sein.

Vielleicht hätte ich einfach meine Schwester fragen sollen, die ungefähr in ihrem Alter war, aber mit der Beschreibung klein, dürr und blond würde sie wohl fast so wenig anfangen können, wie ich mit der Beschreibung groß und männlich, von dem geheimnisvollen Kuvertübergeber.

Ich war mir noch nicht mal mehr sicher, ob ich sie auf einem der Fotos erkennen würde. Vielleicht hatte sie zu Anfang des Schuljahres ja noch eine Brille gehabt und außerdem, so genau hatte ich sie mir gar nicht ansehen können, als sie mir den Umschlag übergeben hatte.

Ich klebte regelrecht vor dem Bildschirm. Warum mussten die Bilder auch alle eine so schlechte Qualität haben, dass es sich gar nicht lohnte sie heranzuzoomen, weil sei dann sowieso komplett verpixelt waren? Ich hatte überhaupt keine Chance sie wiederzufinden, geschweige denn überhaupt jemanden zu erkennen.

Plötzlich ertönte das laute Heulen einer Sirene. Wahrscheinlich wieder eine dieser absolut dämlichen Feuerübungen.

Ich blieb einfach auf meinem Platz sitzen. Schickte noch schnell eine Nachricht an Dominik, damit dieser einem der Lehrer verklickerte, dass ich mit wichtiger Arbeit beschäftigt wäre und aus diesem Grund keine Zeit für eine Übung hätte. Außerdem wusste ich mittlerweile genau, was ich bei einem Ernstfall zu tun hatte.

In solchen Momenten liebte ich es, zugleich Schulsprecher und Chefredakteur zu sein.

"Ein Ersthelfer bitte zur Sporthalle, ein Ersthelfer, bitte. Alle anderen Schülerinnen und Schüler versammeln sich, wie bei den Proben, hinter der Schule. Ich wiederhole, alle Schülerinnen und Schüler versammeln sich hinter der Schule."

Überrascht blickte ich auf. Anscheinend war das doch keine dieser Übungen.

Schnell schnappte ich mir meine Jacke und lief auf den Flur.

Hier war bereits das Chaos ausgebrochen. Überall liefen die Schüler panisch in Richtung der Notausgänge. Alle Feuerübungen waren vergessen, jeder versuchte so schnell wie möglich seine eigene Haut zu retten.

Ich hörte mehrere jüngere Schüler schreien und weinen. Die wenigen Lehrer auf dem Flur hatten jegliche Kontrolle verloren und ihre Versuche, die Schüler ordentlich in eine Zweierreihe zu bringen, waren zwecklos.

Mein Blick ging durch die Schüler, in der Hoffnung, meine kleine Schwester zu finden. Ich war mir ziemlich sicher, dass ihr Klassenraum hier irgendwo in der Nähe meines Büros sein müsste.

Als ich sie nicht sah, versuchte ich mich zu überzeugen, dass sie schon auf dem Platz hinter der Schule war. Ich wusste, dass sie eine ausgezeichnete Läuferin war, bestimmt hatte sie ihre Klasse als eine der ersten verlassen.

"Benjamin!", hörte ich plötzlich jemanden schreien. Mein Blick fiel auf Frau Rose, die an ihrer Hand ein junges Mädchen hielt, die panisch an ihrem Asthmaspray zog. "Bring sie bitte hier raus, ich muss mich um die anderen Schüler kümmern."

Ich nickte und schnappte mir das kleine Mädchen. Ihr liefen die Tränen über die Wange und sie schnappte unaufhörlich nach Luft.

"Wir haben es bald geschafft!", versuchte ich die Kleine hilflos zu beruhigen. Meine Worte erreichten sie nicht,denn sie schien gar nicht mehr wirklich wahrzunehmen, was um sie herum passierte.

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