8

4.3K 263 40
                                    

Tatsache. Es schneit.

Im Licht der aufgehenden Sonne erkennt man viele Schneeflocken umherwirbeln. Große und kleine tanzen hin und her. Ist ja auch schon Dezember. Wird mal höchste Zeit für Schnee. Ich erinnere mich an die Jahre davor. Oder als ich noch ein kleiner Junge war. Ich hab Schnee geliebt, wie heute noch. Weihnachten ebenso. Gebannt beobachte ich die Flocken, als könnte mein Blick sie dazu bringen, dass sie schneller fallen. Ich kippe das Fenster und lasse etwas kühle Luft hinein. Dann ziehe ich mich um und suche Zettel und Stift. In der obersten Schublade der Kommode finde ich beides. Zusammen mit Bastelutensilien. Auf den Zettel schreibe ich etwas und klebe ihn mit Tesa außen an die Tür des Gästezimmers.

Hey Simon. Falls du mich suchst, ich bin im Krankenhaus. Mach' dir keine Sorgen. -Manu.

Leise verlasse ich Simons Wohnung und letztendlich das riesengroße Mehrfamilienhaus.
Als ich die Haustür öffne, kommt mir kalter Wind entgegen. Langsam spaziere ich den Weg entlang Richtung Krankenhaus. Der Schnee unter meinen Füßen knirscht. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Es ist ja auch Sonntag und da bleibt man lieber zuhause bei der Familie.

Früher haben Peter, Seb und ich sonntags meistens Brettspiele gespielt. Oder Memory. Und dann waren sie beleidigt, weil ich, fast immer gewann. Und wenn wir mal nicht drinnen waren, dann draußen im Garten. Wann waren wir eigentlich zuletzt in unserem Baumhaus? Oder haben Schneemänner gebaut, Schneeballschlachten gemacht, oder andere Dinge gemeinsam als Team gemacht?

Seb. Wann haben wir uns das letzte mal gesehen? Ich beschließe, ihn bald wieder anzurufen oder zu besuchen. Wann habe ich eigentlich zuletzt so sehr über die Zeiten nachgedacht? Nunja, vielleicht stimmt es ja, dass man die Dinge erst schätzt, wenn sie weg sind. In Gedanken versunken, merke ich erst nicht, dass ich schon fast angekommen bin. Mittlerweile haben sich auch viele kleine Schneeflocken in meinen Haaren verfangen, was ich in Schaufensterscheiben sehen kann, die mich spiegeln.

Nun stehe ich vor dem Krankenhaus. Will ich überhaupt wissen, was mich dort drin erwartet? Ja. Das will ich. Die Frau an der Rezeption winkt mir kurz freundlich zu und widmet sich dann wieder ihrer Arbeit. Anders wie letztes mal, funktioniert der Aufzug diesmal und im Handumdrehen stehe ich mit Herzklopfen vor der Zimmertür. Ob es dieses mal ein anderer Anblick ist? Langsam drücke ich die Klinke herunter und betrete das Zimmer. Am Bett sitzt eine Person. Seb? Als die Tür ins Schloss fällt, dreht er sich um und sieht mich überrascht an. Lange schweigen wir uns gegenseitig an. ,,Hey." meint er dann. ,,Hallo." entgegne ich kaum hörbar. Ich stehe immer noch an der Tür. Wieder Stille. Unangenehm. ,,Weißt du, wie das passiert ist?" Er deutet leicht auf Peter, der ruhig im Bett liegt. Erst zöger ich, dann nicke ich und beginne zu erzählen, was ich alles weiß. Gegen Ende hin werde ich immer leiser und brüchiger. Die ganze Zeit staare ich auf den Boden und sehe erst hoch, als ich fertig bin.

Seb steht direkt vor mir und sieht mich wütend an. Ich zucke zusammen, als er mich anschreit. ,,Du unnütziger Dummkopf! Du hättest auf ihn aufpassen sollen! Warum bist du nicht bei ihm geblieben?" Zornig funkelt er mich an und betont jedes Wort. ,,Geh mir aus den Augen!"

Ängstlich mache ich die Tür auf, renne den Flur entlang und schließe mich kurz darauf im WC in einer Kabine ein. Nahezu hektisch nehme ich meine Klinge aus der Hosentasche. Mit zitternder Hand krempel ich den Ärmel hoch, entferne den Verband und ziehe immer wieder über die Haut. Es befreit. Er hat ja recht. Ich bin unnütz. Niemand braucht mich. Ich mache alles falsch.

Ich stecke die Klinge an den Ursprungsort zurück und atme tief durch. Doch nur Minuten darauf kommt die Angst, fange ich an, zu weinen.

Ich höre Schritte näher kommen. Dieses Mal klingt seine Stimme nicht hasserfüllt, sondern besorgt und traurig. ,,Manu. Ich weiß, dass du hier bist. Bitte komm raus." Seine Schritte werden schneller und er klopft an meine Kabine. ,,Man. Bitte. Ich habs nicht so gemeint. Es tut mir leid. Ich hab Angst." Ich weiß nicht, warum, aber ich rühre mich nicht und starre auf die Tür, mache keinen Mucks. Was, wenn er mich gleich wieder anschreit? Leise fange ich wieder an, zu weinen. ,,Mach diese verdammte Tür auf!" Dadurch, dass er gegen die Tür schlägt, oder tritt, ertönt ein lauter Schlag, welcher mir noch mehr Angst macht, und ich fange an, wie hemmungslos zu weinen. Jetzt ist er ruhig. ,,Ich will euch doch nicht beide verlieren. Mach bitte auf."

Wieder achte ich nicht auf ihn. Ich zucke zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Ich sehe auf und wische mir erstmal ein paar mal über die Augen, um überhaupt sehen zu können. Seb. So, wie ich ihn kenne, ist er von der Kabine nebenan hier rein geklettert. Nun hockt er vor mir und mustert mich teils erschrocken, teils besorgt. ,,Es tut mir leid." flüstert er und nimmt mich dann in den Arm. Er drückt mich an sich, bis sich mein Herzschlag und mein Atem normalisiert. Aber trotzdem weine ich immer noch.

Eine Zeit lang ist nur mein Weinen zu hören. Doch dann lässt Seb mich schlagartig los und deutet nach unten. ,,Was ist das?" Auf dem Boden ist Blut. Nicht gerade viel, aber auch nicht wenig. Prima gemacht. Durchdringlich sieht er mich an und ich blicke geschämt zurück. ,,Ist das von dir?" fragt er leise. Ich nicke und ziehe den Ärmel hoch. Er nimmt den Arm vorsichtig, zieht den Ärmel zurück und umarmt mich wieder. Ich bin echt froh, dass er nichts sagt. Oder mich nicht wieder anschreit.

Dann stellt er mir doch ein paar Fragen, die ich nach langer Unsicherheit beantworte. Wie lang es mir schon so geht oder warum mir niemand geholfen hat. Er löst sich, nimmt sein Handy aus der Tasche und wählt eine Nummer. Bevor er anruft, sagt er ,,Bleibst du hier? Ich komme gleich wieder." Ich nicke nur und bleibe stumm sitzen.

Eine Ewigkeit darauf kommt Seb wieder. Mit Simon, welcher mich hochzieht und mir um den Hals fällt. ,,Mensch. Was machst du denn für Sachen?" nuschelt er und lässt mich los. Seb beginnt zu reden. ,,Ich hab Simon alles erzählt. Er behält es für sich. Okay?" Ich lächel ihn leicht an, was er als Bestätigung nimmt. Er wechselt noch ein paar Worte mit Simon und lässt mich dann mit ihm alleine.

,,Warum hast du nichts gesagt? Wir hätten dir helfen können!" Beschämt sehe ich ihn an. ,,Findest du das schlimm?" frage ich schließlich und weiche so seiner Frage aus. Simon schüttelt den Kopf. ,,Nein." Wieder ist es sehr lange still. Seit wann kann Stille so laut sein? ,,Darf ich mal sehen, bitte?" fragt er und ich strecke ihm den Arm hin. Vorsichtig zieht er den Ärmel hoch und fährt dann sachte über die Narben und noch offenen Schnitte. Er lächelt mich an. ,,Wir kriegen das schon hin." ,,Versprochen?" ,,Versprochen." Er nimmt meine Hand, zieht mich aus dem Krankenhaus und daraufhin zu seinem Auto.

GlpaddlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt