Hymn For The Missing

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Und plötzlich schien die Welt stillzustehen und nichts war mehr wie vorher.

Weder er noch ich bemerkten den Wagen, der mich stattlichem Tempo angerauscht kam. Als ich es tat, war es bereits zu spät, Castiel stand mitten auf der Straße.

„CASTIEL!!!" , schrie ich panisch und rannte auf ihn zu. Er war wie versteinert. Seine grauen Augen starrten in das grelle Licht der Scheinwerfer, der Fahrer versuchte zu bremsen, doch die Straße war durch den Regen und die Kälte glatt und nass.

Der Wagen scherte aus und erwischte Castiel, nahm ihn auf die Haube und schleuderte ihn durch die Luft.

Niemals in meinem Leben werde ich das Quietschen der Reifen und das Geräusch der blockierenden Bremsen vergessen!

Oder das gräßliche Geräusch, das Castiels Körper machte, als er auf dem Asphalt aufschlug und reglos liegen blieb.

Mein Herz blieb stehen.

Ohne zu wissen, was ich tat und ohne darauf zu achten, ob ein weiteres Fahrzeug kam, rannte ich auf die Straße und schmiss mich neben ihm auf die Knie.

Der Fahrer des Wagens, ein junger Mann, stieg aus und zückte ein Handy.

„Oh Gott!! Ich schwöre, ich habe ihn nicht gesehen... oh Gott, ich war viel zu schnell... ich... Hilfe!" Er tippte die Notrufnummer und tigerte um sein Auto herum. Die Frontscheibe war zersplittert.

Aber das bemerkte ich nur nebenbei.

Ich sah in Castiels Gesicht und berührte es mit den Händen. Er schlug matt die Augen auf.

„Lysander..."

„Cas... nicht sprechen. Der Notarzt ist unterwegs. Bitte, schone deine Kräfte."

Dunkles Blut sickerte ihm über die Stirn und verlief sich in seinem Ohr. Auch unter seinem Kopf konnte ich sehen, dass sich Blut ausbreitete. Es war dunkler als die nasse Straße.

Mein Herz tat weh und ich schloss die Augen. Ich spürte, wie sich heiße Tränen in meinen Augen sammelten und über meine Wangen rannen.

„Lys... nicht heulen... bitte..."

Ich schluchzte leise.

„Mir ist... kalt."

Ich griff nach seinen Händen. Sie waren eiskalt und er zitterte.

„Das..." Er hustete matt. „... hab ich mit Abhauen nicht gemeint..."

„Bitte, hör auf zu reden. Es wird alles wieder gut!"

Er lächelte und ich sah, dass sich Blut in seinem Mund gesammelt hatte, dass er krampfhaft runterzuschlucken versuchte.

„Nein... ich... spüre meinen Körper nicht mehr, Lys... bitte... lass mich nicht allein."

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, niemals wieder. Es tut mir so leid."

So sanft ich konnte, legte ich meine Hände an seine Wangen und meine Lippen auf seine. Ich konnte sein Blut schmecken, doch das war mir gleich.

„Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe... um zu verstehen."

Er lächelte und ich sah, dass seine Augen im Licht der Straßenlampen langsam ihren Glanz verloren.

„Ich liebe dich, Lysander."

Ich nickte. „Ja... ich liebe dich auch. Ich war so dumm. Bitte halte durch."

Schluchzend legte ich meinen Kopf auf seine Brust.

Als nur wenige Minuten später der Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene am Unfallort eintraf, hatte Castiel mich bereits verlassen.

Seidene Fäden [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt