Kapitel 2 - Sonderfälle

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Ich hoffe, es ist euch nicht zu langweilig, weil ich erst mal viel erzähle :)

Nachdem ich gezwungen war, Sam um sechs Uhr morgens eine Standpauke zu halten, sitzen wir mit dieser typischen Spannung am Tisch, die jedes Mal herrscht, wenn Sam mal wieder irgendetwas angestellt hat. Er ist dann wirklich eine beleidigte Leberwurst und lässt kaum noch mit sich reden. Er ist wirklich stur. Harry sagt immer, das hat von mir, aber ich bin mir da nicht sicher. Harry kann auch stur sein.

„Weißt du, Sammy", sagt Harry, während er Lucas ein Brot schmiert. „Die Vase war sowieso total hässlich. Oma wird gar nicht bemerken, dass sie weg ist."

Schweigend bereite ich den Brei für Sunny vor. Jetzt versucht Harry ihn wieder aufzumuntern, weil er ganz genau weiß, dass Sam den ganzen Tag rummurren wird, wenn wir ihm weiterhin böse sind. Harry ist ihnen sowieso nie richtig böse. Sie könnten das Haus abbrennen und er würde es einfach hinnehmen, weil Sie sind ja unsere tollen Kinder. Allerdings hat Sam mal einen wunden Punkt bei ihm getroffen, als er Harrys Lieblingsbuch vollgemalt hat. Wofür er übrigens über zweihundert Dollar ausgegeben hat, weil es Erstausgaben waren. Da war er mal wütend, aber sonst nimmt er alles immer mit der leichten Schulter.

„Und wenn du sie nicht runtergeschmissen hättest, dann hätte es Emerald für dich übernommen", spricht Harry weiter auf ihn ein, weil Sam weiterhin beleidigt seine Cornflakes ist.

Ihm hängt eine verirrte Locke in der Stirn, die schon viel zu lange da hängt. Ich muss mit ihm unbedingt mal wieder zum Friseur, denn er hat Harrys widerspenstige Lockenpracht geerbt. Eigentlich mag ich seine Locken, würden nicht ab und zu irgendwelche seltsamen Dinge dort drin kleben, wie tote Fliegen oder Kaugummis. Die Locken unterscheiden ihn wieder von seinem Bruder, denn Lucas hat glattes Haar, womit er gleich noch viel braver aussieht. Sowieso ist Lucas eher ein Mamakind, während Sam lieber mit Harry abhängt, weil ich ihm zu langweilig bin. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Abgesehen von ihrem großen Muttermal an ihrer linken Hand. Das haben sie beide.

Die beide waren sowieso schon immer eine Art Sonderfall. Besser gesagt, waren sie ein Unfall. Als Harry und ich im Urlaub in Thailand waren, haben wir mal eine Nacht nicht aufgepasst, dann hat noch die Pille versagt und schon war ich mit dreiundzwanzig schwanger. Es hat uns getroffen, wie ein Blitz. Nämlich völlig unvorbereitet. Harry und ich waren eigentlich dabei die halbe Welt zu bereisen, uns standen noch alle Türen offen. Seine und sogar meine Karriere als Schriftsteller waren auf ihren Höchstpunkten, wir waren froh, endlich an diesem Punkt angelangt zu sein und mit jeder Menge Kohle um den Globus zu fliegen, bis na ja ... Bis ich mich mitten in Thailand in einen Baskenkübel übergeben habe. Wir rätselten nicht mal lange herum, uns war sofort klar, dass ich schwanger war.

Wir wussten, wir würden nicht abtreiben, das käme absolut nicht in Frage, doch so richtig vorbereitet waren wir auch nicht. Besser gesagt absolut nicht. Eine feste Wohnung oder ein Haus hatten wir nicht, keinen Plan, nichts. Harry dachte ständig, wir würden das niemals packen, weil er selbst vor so viel Verantwortung Angst hatte, jede Menge Streitgespräche fanden statt, bis auf den Tag, an dem ich das erste Mal bei der Ultraschalluntersuchung mit ihm war. Das erste Mal würden wir unser Baby sehen.

Ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie nervös Harry war, während der Doktor mit der Sonde über meinen Bauch fuhr, um das kleine Ding in meinem Bauch zu erkennen. Bis dann endlich etwas auf dem Monitor erschien.

„Hmm", machte der Doktor und zog sich die Brille höher auf die Nase. „Sehr interessant."

Harry brach noch mehr in Schweiß aus. „Sehr interessant?", fragt er hektisch. „Das klingt nicht positiv!"

„Beruhigen Sie sich, Mister Styles", sagte der Doktor und zog sich die Brille wieder ab, rutschte mit der Sonde noch mehr auf meinem Bauch herum. Er zeigte auf den Bildschirm, worauf ich wirklich nicht erkennen konnte. „Sehen Sie das?", fragte er. „Sie bekommen Zwillinge."

Und das war der Moment, bei dem Harry wohl alle Lichter ausgingen. Buchstäblich. Er fiel einfach in Ohnmacht. Klatschte unmittelbar auf den harten Fließboden und holte sich eine fette Beule am Hinterkopf ein.

Zwillinge? Wir hatten schon Panik vor einem Kind, aber gleich zwei? Für den ersten Moment war es die reinste Hölle, aber als ich dann die Herzen der kleinen Wesen in meinem Bauch sah, überkam mich sofort die allbekannte Mutterliebe. Am liebsten hätte ich sie sofort in den Armen gehalten und mit allem geliebt, das ich hatte. Auch wenn es nicht sonderlich viel war.

Wir überlegten nicht lange und beschlossen noch vor der Geburt der beiden Quälgeister zu heiraten. Harry hatte mir schon ein Jahr vorher einen Heiratsantrag gemacht, weswegen das lange Warten sowieso keinen Sinn gemacht hätte und ich wollte nicht fett sein, wenn ich in meinem Hochzeitskleid vor ihm stehe.

Die Sache mit dem Heiratsantrag war auch so eine Sache. Wir waren total stoned, als er um meine Hand anhielt. 2020 wurde am 1. September das Gras rauchen erlaubt, was wir sofort ausnutzten und mindestens sieben Tüten kauften. Tja und als wir dann irgendwann in einem Hotel saßen und das Zeug pafften, kam Harry irgendwann die Idee, er könnte mich fragen, ob ich ihn heiraten möchte.

„Ey", sagte er, während er auf dem Rücken in dem Bett lag und benebelt die Decke anstarrte.

Ich starrte ebenfalls benebelt an die Decke, total high von dem Gras. „Ey", gab ich zurück.

„Wir sollten heiraten", säuselte er.

Ich hatte das Gefühl innerhalb von einer Sekunde alle Risiken einer Hochzeit und die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung zu berechnen und durchzugehen, deswegen sagte ich sofort: „Okay."

„Cool", sagte Harry, starrte weiterhin an die Decke.

Ich starrte ebenfalls weiter an die Decke. „Cool."

So verlobten wir uns also. Meine Güte, diese Geschichte sollte man wirklich niemanden erzählen. Meine Freundinnen beneiden mich ständig, weil Harry immer noch so eine romantische Ader hat, aber dieser Heiratsantrag und vor allem der nicht folgende Sex, weil wir sofort danach eingeschlafen sind, haben wohl überhaupt nichts mit Romantik zu tun.

Auf jeden Fall haben wir seit dieser Nacht nie wieder gekifft. Okay, vielleicht ein oder zwei oder drei oder vier Mal, aber heute tun wir es nicht mehr. Wir sind jetzt Autoritätspersonen und müssen ein Vorbild für unsere Kinder sein. So reden wir es uns zumindest ein. Ich habe zu oft das Gefühl, dass Harry immer noch genauso jugendlich und verspielt wie damals ist. Aber ich liebe das. Wenn wir allein sind und Zayn mit seinem Freund mal die Kinder für eine Nacht nimmt, bekomme ich das Gefühl, wir sind wieder zwanzig Jahre alt und turteln wie verrückt rum.

„Hey, Sammy", versucht Harry wieder auf Sam einzureden, der mittlerweile schon seit einer halben Ewigkeit an einer Brotrinde rumkaut und weiterhin starr auf den Tisch glotzt. „Wir könnten nachher mit Hank zum Fluss, was sagst du?"

Sam murrt, allerdings murrt er noch deutlich genug: „Okay." Und schon hat Harry ihn wieder am Haken.

Hank ist unser Deutscher Schäferhund, den Harry und ich aus Deutschland mitgebracht haben, als wir kurz dort waren. Vorher hieß er Rex, aber dieser Name hat keinen von uns beiden gefallen. Hank gefällt mir genauso wenig, weil ich das Gefühl habe, man würde jedes Mal einen Opa rufen, wenn man ihn ruft, doch Harry fand ihn toll, deswegen gab ich nach.

Das ironischste bei unseren Kindern ist, das keins von ihnen auch nur interessiert an Literatur ist. Klar, sie sind fünf und fünf Monate alt, aber nicht mal beim Geschichtenvorlesen wollen sie zuhören. Wie viele Abende saßen Harry und ich an ihren Betten und haben versucht ihnen Märchen vorzulesen, um vielleicht ein wenig Interesse an solchen Dingen in ihnen zu wecken, doch nichts da. Sie wollten es nicht hören, stattdessen wollten sie Musik zum Einschlafen hören. Klassische Musik. Am liebsten haben sie Bach. Ja, es ist seltsam, das wissen wir auch, doch wir können es nicht ändern.

Bei einer ewig langen Autofahrt zum Flughafen, um Harrys Mutter und Robin abzuholen, haben die beiden einfach keine Ruhe gegeben und waren so unzufrieden mit der Musik. Ständig skippte Harry durch die Kanäle, doch nichts fanden sie toll. Bis dann klassisches Radio lief und sie still waren. Sie waren einfach still. Heute summen sie manchmal sogar zu den Violinklängen mit.

Meine Mutter sagt immer, sie seien Wunderkinder, doch mich verstört es beinahe. Harry und ich sind Schriftsteller und keine Musikinteressenten. Doch das müssen wir wohl akzeptieren. Mir ist es lieber, dass sie auf klassische Musik stehen, also auf das Malen an Wände oder ständiges Fernsehgucken.


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