»Das Kreidekind«

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An einem verregneten Dienstagnachmittag legte ich meinen durchnässten, schwarzen Mantel auf dem roten Polster einer der hölzernen Bänke ab und nahm vor dem runden Tisch vor mir Platz.

Es war ein Fensterplatz. Wir saßen immer an diesem Platz am Fenster. Der Regen prasselte auf die Scheibe nieder und Stimmengewirr drang an meine Ohren.

Vor mir lag eine schön verzierte Speisekarte, doch ich schob sie zur Seite. Was ich uns bestellen wollte, wusste ich bereits, denn es war jeden Dienstag das Selbe.

Ein freundlich lächelnder, junger Kellner mit wirrem, braunem Haar trat zu Mary und mir an den Tisch und fragte mich mit tiefer Stimme nach unserer Bestellung.

Etwas schüchtern bat ich ihn um einen Erdbeermilchshake und eine heiße Schokolade mit extra viel Sahne.
Mit einem Nicken nahm er unseren Wunsch entgegen und verließ den Tisch wieder.

Seit drei Jahren besuchten Mary und ich nun schon jeden Dienstag gegen 15 Uhr dieses gemütliche Café im Zentrum von Dover und bestellten jedes Mal dieselben Getränke.
Mary liebte Schokolade über alles.

"Wie war die Schule heute, Isaac?", fragte sie mit ihrer festen, selbstsicheren Stimme. Ich bewunderte sie dafür, denn sie war viel selbstbewusster als ich.

"Ganz in Ordnung."
Ich strich mir eine braune Strähne hinter mein linkes Ohr und blickte in Marys tiefblaue Augen.

Einige Besucher warfen mir komische Blicke zu, doch daran hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Es war zu etwas total normalem geworden.

Endlich kam der nette Kellner von vorhin und stellte unsere Getränke ab.
Mit einem etwas betrübten Blick bezahlte ich sie.

Dann schob ich Mary ihre heiße Schokolade mit der extra großen Portion Sahne entgegen.

Einige Leute mochten es vielleicht verrückt finden, dass ich mich noch mit meiner Freundin unterhielt, doch für mich war es das selbstverständlichste auf der Welt.

Ich fing an, meinen Erdbeermilchshake zu trinken. Der bekannt süße Geschmack zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen.

Marys Getränk hingegen blieb unangerührt. Aber das war immer so, denn sie konnte das Glas nicht berühren.
Stattdessen widmete sie mir einen traurigen Blick. Zumindest fand ich, dass er sehr traurig wirkte.
Ihr langes, hellbraunes Haar fiel in Wellen über ihre Schultern und langte bis zu ihrer Brust.

Mein Blick schweifte zu dem Ausblick, den wir durch das Fenster an unserem Platz hatten.
Da waren viele Autos, die an uns vorbeizogen, bunte Häuser und wenn man genau hinschaute, konnte man in der Ferne den berühmten Beachy Head ausmachen.

Genau dort blieb mein Blick hängen.

Vor etwas weniger als einem halben Jahr stand Mary an eben diesen Kreideklippen und stürzte sich in ihren sicheren Tod.

* * *

Ich erinnerte mich noch genau an diesen Tag.
Wie immer besuchte ich gegen fünfzehn Uhr das "Denib"-Café in Dover und setzte mich an unseren Platz am Fenster.

Eigentlich war Mary immer vor mir da, sie legte viel Wert auf Pünktlichkeit und gute Manieren. Doch dieses Mal war ich diejenige, die zuerst an unserer Bank platz nahm.

Ich wartete noch zehn Minuten, ehe ich wie üblich unsere Getränke bestellte.
Doch heute musste ich meinen Erdbeermilchshake alleine trinken. Vergeblich wartete ich auf Mary, versuchte sogar, sie anzurufen, doch nur ihre Mailbox meldete sich.

Irgendwann gegen vier Uhr bezahlte ich dann Marys unangerührte Schokolade und meinen leeren Shake und verließ das Café.
Draußen war es sehr bewölkt, aber dennoch warm. Ein angenehmer Wind wehte durch mein dunkles Haar.

Bevor ich nach Hause ging, streifte ich noch einmal durch die gut besuchten, einladend wirkenden Einkaufspassagen.

Um etwa siebzehn Uhr traf ich mit zwei neuen Büchern und gemäßigter Laune zu Hause ein. Normalerweise dominierte der Geruch von frisch gekochtem Essen um diese Zeit die Luft in unserer Wohnung, doch nicht an diesem Tag.

Leises Schluchzen drang aus der Küche an meine empfindlichen Ohren und ich betrat langsam und zögerlich den großen, hellen Raum.
Meine Mutter saß mit gesenktem Kopf an unserem Küchentisch. Ihre Schminke war verlaufen von den vielen Tränen, die sie geweint hatte.

Ich setzte mich vorsichtig zu ihr und schaute sie eindringlich an.

"Was ist denn geschehen?"

Sie umschloss meine kalten Hände mit ihren Eigenen.
Dann fing sie mit brüchiger Stimme zu sprechen an.

"Isaac... Ich habe eben einen Anruf bekommen. Er war von Marys Eltern."

Die Beiden waren gut befreundet mit meiner Mutter. Hoffentlich war ihnen nichts passiert.

Ich biss mir auf meine Unterlippe.

"Vor etwa einer Stunde hat man Mary gefunden... Sie lag an den Kreideklippen. Ihr war nicht mehr zu helfen."

Mein Blick wurde starr und meine Hände verkrampften sich.

"Sie ist hinunter gesprungen."

Nun konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich weinte erbarmungslos.

* * *

Die sanfte Stimme einer älteren Frau mit elegant hochgestecktem, grauem Haar holte mich zurück in die Wirklichkeit.

"Geht es ihnen gut, junge Dame? Sie sehen so traurig aus."
Sie lächelte mir entgegen.

Ich schüttelte den Kopf und lächelte leicht. "Nein, alles in Ordnung. Danke."

Sie erwiderte mein Lächeln und suchte sich einen Platz. Ich verlor sie aus den Augen.

Seit diesem einen Dienstagnachmittag besuchte ich jede Woche das kleine Café und bestellte meinen Erdbeermilchshake und Marys heiße Schokolade mit extra viel Sahne. Sie blieb unangerührt, so wie an dem Tag, an dem sie sprang.

Ich unterhielt mich jedes Mal mit ihr, obwohl sie gar nicht wirklich da war. Die Leute dachten meist, ich würde Selbstgespräche führen, aber das war falsch.

Manchmal konnte ich sie sogar sehen. Ihr phosphoreszierender Körper war dann ganz weiß, nur ihre Augen leuchteten in den schönsten Blautönen, so wie auch zu ihren Lebzeiten.

Ich vermisste sie wirklich sehr.

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