Der Tag, an dem das Leben wieder wunderschön wurde

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Der Wind war stark, so stark dass er an den Klamotten des Jungen zerrte und ihn fast in die Tiefe vor ihm riss, und das Leben war hässlich.

Will sah herunter, er sah den Abgrund unter sich.

Aber es war kein Abgrund, es war keine Erde unter ihm, sondern Wasser.

Wenn er springen würde, würde er trotzdem sterben.

Aus dieser Höhe war selbst der sonst so sanfte Fluss hart wie Beton.

Als er noch ein Kind war, ist er oft dort drinnen geschwommen.

Langsam breitete er seine Arme aus, und er schloss die Augen.

Es war eine kalte Nacht, und die Tränen auf seinen Wangen brannten.

Er holte tief Atem, dann lehnte er sich nach vorne.

Gleich würde es aufhören, alles würde aufhören.

Der Schmerz, die Kälte, die Leere.

"Hey!", schrie plötzlich eine Stimme hinter ihm und der Will fuhr herum, wobei er fast das Gleichgewicht verloren hätte und er schwankte leicht.

Vor ihm stand jemand, ein Junge.

Seine Haare waren dunkel, genau wie seine Augen, die Haut blass, und er sah wunderschön aus.

Er sieht aus wie ein Engel, dachte er.

Der Junge sah ihn unsicher an, und er kam vorsichtig näher.

"Nicht.", flehte Will und sah ihn aus tränenden Augen an. "Bitte nicht, ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr."

Die Tränen durchtränkten sein T-Shirt, und der Junge blieb stehen.

"Es ist alles okay, aber bitte, spring nicht.", versuchte der Engel ihn zu beruhigen.

Will schüttelte den Kopf und lehnte sich nach hinten.

Er war so müde, so, so müde.

"Stop!", bat der Junge laut, und Will sah ihn an.

Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen, dann fing er an seine riesige Aviator Jacke zu öffnen, und Will sah ihn verwirrt an.

Die Jacke fiel zu Boden, und nackte Haut blitzte auf.

Der Engel trug nur ein dünnes Tank-Top darunter.

Er wird sich erkälten, dachte Will besorgt.

Er kam näher, aber nicht zu Will, sondern an den Rand der Brücke, und er kletterte über das Geländer, bis er genau wie der Blonde am Rand stand, nur ein paar Meter neben ihm.

Auch er breitete seine Arme aus, den Kopf in den Nacken gelegt, seine blasse Haut schien zu schimmern unter dem Mondlicht.

Dann drehte er den Kopf und sah Will mit seinen dunklen Augen an, dunkel wie die Tiefe unter ihnen.

"Wenn du springst, springe ich auch.", versprach er ihm ernsthaft.

"Was? Bist du verrückt?", fragte der andere entsetzt und drehte sich so, dass sein Rücken wieder zu der Brücke gekehrt war.

"Sagt der Junge, der springen will.", entgegnete der Engel sarkastisch.

"Warum solltest du springen?", wollte Will wissen.

Es stimmte, er wollte sterben, aber er wollte niemanden mit sich in den Tod reißen.

"Warum nicht? Ich habe nie darum gebeten auf dieser Erde zu sein.", meinte der Dunkelhaarige und rückte vorsichtig näher, bis er ganz nah an Will heran stand.

"Möchtest du wirklich alleine sterben?"

Für einen Moment zögerte Will, dann spürte er wie kalte Finger seine Hand nahmen.

"Wenn du denkst, dass diese Welt nichts mehr zu bieten hat, dann lass uns springen, aber wenn dir auch nur eine Sache einfällt, um deren Willen das Leben sich lohnt, dann komm mit mir zurück in Sicherheit.", sagte der Engel leise, und er hielt Wills Hand fest umschlossen.

Will sah ihn an, und dann wieder nach unten.

"Ich- Ich will nur das es aufhört. Alles. Es tut so weh, und es ist so kalt. ich spüre keine Wärme mehr, verstehst du? Ich spüre nichts.", hauchte er in die kühle Nachtluft.

"Ich weiß. Gott, ich weiß.", flüsterte der Junge neben ihm, und sein Körper zitterte.

Vielleicht vor Adrenalin, vielleicht vor Kälte.

Vielleicht wegen beidem.

"Was wenn es nie aufhört?", fragte der Blonde leise.

"Aber was wenn es aufhört?"

"Ich-", er verstummte. "Ich bin so- Ich weiß es nicht. ich weiß nicht was ich fühle."

"Das ist okay, du bist jung. Aber entweder hast du jetzt noch ein paar Minuten herauszufinden, was du fühlst, oder du hast noch Jahrzehnte.", murmelte der Engel sanft.

Will verstummte, und er dachte nach.

Er dachte an seine Mutter, und an seine Brüder, an seine Freunde.

Er dachte an den Sommer letzten Jahres, als er auf dem Dach seines Hauses lag mit Lou Ellen und Cecil, und wie sie den Sonnenaufgang beobachtet hatten.

Er dachte an das Silvester vor zwei Jahren, als er auf einer Party war und zum ersten Mal einen Jungen geküsst hatte.

Er dachte an die Nächte, in denen er seinen kleinem Bruder ein Buch zum Einschlafen vorgelesen hatte.

Und er dachte daran, wie er als Kind oft in dem Fluss unter sich schwimmen gegangen war.

"Ich lebe.", flüsterte er, und dann lauter. "Ich lebe. Ich lebe, ich lebe, ich lebe. Gott, ich lebe!"

Und er schrie es aus vollen Lungen, und der Engel neben ihm lachte und es hörte sich an wie der erste Schneefall des Winters.

Sie standen dort, am Rand, und Will weinte, und er schrie, und er fühlte.

Sein Herz schmerzte, und sein Kopf schmerzte, und seine Lungen schmerzten, aber er lebte.

Der Engel half ihm zurück über das Geländer zu klettern, und auf der anderen Seite brach der Blonde zusammen und er weinte.

Und er schluchzte.

Und er lachte.

Er umarmte den anderen Junge, der kleiner war als er und der dünner war als er, und der Junge hielt ihn fest.

Sie lösten sich voneinander, und Will sah in die dunklen Augen des Engels, und er lächelte unter Tränen.

"Danke. Mein Name ist Will, und danke.", flüsterte er, und der Junge sah ihn sanft an.

Der erste Schnee des Winters fiel lautlos auf den Boden um sie herum und auf ihre Schultern und Köpfe.

"Ich bin Nico.", stellte er sich vor, und er war wunderschön.

Das Leben war wunderschön.



Solangelo One-ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt