Kapitel 6

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"Das wäre schonmal geschafft", sagte Silver. Er stand ein paar Meter vor mir, breitbeinig und hatte die Hände in die Hüften gestemmt.

Die Sonne schien ihm ins Gesicht und ließ seine grünen Augen im Licht erstrahlen. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn - er sah erschöpft aus.

Und auch ein bisschen glücklich. Ihm zu helfen war die richtige Entscheidung gewesen, das spürte ich. Wir hatten das ganze Baumaterial erfolgreich hierher geschleppt aber die Hütte baute sich trotzdem nicht von alleine.

Eine Pause hatten wir uns dennoch verdient, also ließ ich mich ins Gras fallen und legte meinen Kopf auf dem Boden ab.

Ich atmete erleichtert aus, als ich die weichen Grashalme an meinen Armen und Beinen spürte. Aber Silver hatte anscheinend andere Pläne. "Komm, lass uns weitermachen. Wir müssen noch überlegen, wie groß und wie hoch die Hütte sein soll"

"Lass uns erstmal eine Pause machen", murmelte ich schläfrig. "Naja, ich hab dich ja nie um Hilfe gebeten, also mach was du willst. Ich fang jetzt jedenfalls mit dem Planen an", erwiderte er und hörte sich dabei ein wenig eingeschnappt an.

Warum musste er denn auch so hetzen? Wir hatten noch so viel Zeit. In ein paar Wochen waren schon wieder Herbstferien und da hatten wir sowieso nichts besseres zu tun.

Ich hatte kein Badminton-Training und in den Urlaub fuhren wir auch nicht. Und ich war mir ziemlich sicher, dass Silver seine Ferien auch hier verbringen würde.

Schließlich hatten er und sein Onkel kein gutes Verhältnis zueinander und da machte ein gemeinsamer Urlaub reichlich wenig Sinn.

Ich hörte Silvers Schritte, wenn er herum lief um etwas auszumessen. Schließlich schloss ich meine Augen, um mich etwas auszuruhen.

Ich blinzelte verschlafen. Die Sonne schien direkt in mein Gesicht und blendete mich. Ich setzte mich auf und ließ meinen Blick schweifen.

Ich war wieder am See. Nachdem ich mich vorhin bei Silvers Lichtung hingelegt hatte, erinnerte ich mich an nichts mehr.

Das bedeutete, dass ich eingeschlafen sein musste, was wiederum bedeutete, dass Silver mich hierher getragen haben musste. Strange.

Jetzt war er jedenfalls nicht mehr da, also blieb mir nichts anderes übrig, als einfach nach Hause zu fahren.

Dort angekommen beschloss ich, ihm eine Nachricht zu schreiben und ihn nach dem Vorfall heute zu fragen. Aber da fiel mir auf, dass ich noch nicht einmal seine Handynummer hatte.

Da ich ihm also weder schreiben konnte, noch ihn anrufen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als bis Montag zu warten. Leicht genervt akzeptierte ich mein Schicksal.

Ich war von Natur aus neugierig und hasste es, wenn ich nicht wusste, was Sache war. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich nicht locker gelassen hatte, als Silver versucht hatte, mich loszuwerden. Sturkopf.

So nannte Louis mich immer. Er selbst gab bei Diskussion oder Streits meistens schneller nach als ich. Allgemein war Louis viel stiller und zurückhaltender.

Ich beharrte hingegen immer bis zum bitteren Ende auf meine Meinung.

Da irgendwie mal wieder niemand außer mir zu Hause war, beschloss ich, Lia anzurufen. Rose und Louis waren über's Wochenende weggefahren und Sue hatte ja heute ihr Date mit Brian.

Außerdem hatten Lia und ich uns schon lange nicht mehr getroffen. Sie war zwar oft bei uns zu Hause, aber meistens wegen Ian. "Hey Süße, was gibt's?", ertönte Lias Stimme auf der anderen Seite der Leitung.

"Hey, ich wollte fragen ob du spontan Zeit hast in die Stadt zu fahren oder so. Ich sterbe sonst hier vor Langeweile" Lia lachte. "Klar klingt doch super. Ein bisschen Shoppen gehen kann nie schaden.

Außerdem brauche ich auch noch ein Geschenk für Ian, das passt dann ja" Nächste Woche hatten die beiden ihren Jahrestag und ich musste direkt grinsen, als Lia es erwähnte.

"Ok, dann bis gleich", erwiderte ich und legte auf. Auf Lia konnte man sich einfach immer verlassen.

Ich warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, dann ging ich los.

Nachdem Lia und ich angekommen waren gingen wir zuerst zu Starbucks. Wir kauften unsere Getränke, dann setzten wir uns an einen freien Tisch. Lia und ich besprachen gerade, welches Geschenk am besten für Ian geeignet wäre, als mein Handy vibrierte.

Wenn man vom Teufel spricht. Mein großer Bruder hatte mir eine Nachricht geschrieben: "Hey Lynn, bin grade nach Hause gekommen, wo bist du?"

"Bin im Einkaufszentrum wieso?", antwortete ich. "Nur so", kam ein paar Sekunden später zurück. Verwundert verstaute ich mein Handy wieder in meiner Tasche.

Seit wann kümmerte ihn, wo ich mich aufhielt? Ich dachte nicht weiter darüber nach und wandte mich wieder Lia zu.

Ungefähr zwei Stunden später kamen wir mit dicken Tüten beladen bei mir an. Lia hatte sich entschlossen, noch kurz mit zu kommen um Ian zu sehen. Wir gingen die Treppe nach oben und sie öffnete die Tür zu seinem Zimmer.

Ich war gerade dabei mein Zimmer zu betreten, drehte mich aber ruckartig wieder um, als Lia plötzlich anfing zu brüllen. "Du Arsch! Wie kannst du das nur tun?"

Vorsichtig schaute ich an ihr vorbei durch den Türrahmen. Was ich sah, ließ mir die Kinnlade runter klappen: Ian saß auf dem Bett und hatte sich über ein Mädchen gebeugt, dass gerade erschrocken aufschrie.

Sie trug nur noch ihre Unterwäsche und ihre Haare waren zerzaust. Sofort sprang sie auf. Innerhalb von ein paar Sekunden hatte sie ihre Klamotten zusammengesammelt und flüchtete aus dem Zimmer.

Nur einen Moment später hörte ich die Haustür zuschlagen. Lia hatte das ganze nur mit einem Pokerface beobachtet aber ich konnte sehen, wie nah sie davor war, zu weinen.

"Lia..", begann Ian zu stammeln, doch sie ließ ihn nicht ausreden. "Halt einfach die Fresse, du Idiot! Ich will dich nie wieder sehen!"

Damit drehte sie sich um und lief die Treppe herunter. Mein Bruder sprang auf und rief ihr hinterher. "Bitte hör mir zu.." "Nein! Lass mich in Ruhe!" Ich sah wie sie wütend ihr Sachen aufhob und schließlich die Tür mit einem lauten Knall zuschlug.

Vorsichtig sah ich Ian an. Er fluchte laut auf und trat voller Wucht gegen seine Zimmertür. Erschrocken fuhr ich zusammen.

"Lass mich jetzt bitte einfach in Ruhe", sagte er nun schon etwas ruhiger und verschwand in seinem Zimmer. Ich war zu geschockt, um irgendetwas zu erwidern.

Dass mein Bruder jemals fremdgehen würde, hätte ich niemals erwartet. Er und Lia waren jetzt schon so lange zusammen und hatten sich fast noch nie gestritten.

Was Liebe anging, waren die beiden immer ein Vorbild für mich gewesen. Es war unfassbar, wie schnell so eine perfekte Beziehung enden konnte.

Eine falsche Aktion und alles, was man sich zusammen aufgebaut hatte, zerbrach.

"Ich will nie eine Beziehung haben, die so endet", dachte ich aber mir wurde bewusst, dass man so etwas nicht verhindern konnte.

"Das ist der Lauf der Dinge", hätte Mom jetzt gesagt und es war das erste Mal, dass ich wirklich verstand, was sie immer damit meinte.

Away into the distanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt