Prolog

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Mit einem riesen Lächeln im Gesicht trete ich aus dem alten Gebäude. Ich schließe meine Augen, fühle wie ein zarter Herbstwind über mein Gesicht und durch meine Haare streift. Meine schneeweiße Haut wird durch den Luftwechsel erfrischt, beinahe schon wiederbelebt. Bei jeder Bewegung scheine ich mich lebendiger zu fühlen, sodass ich die Umgebung mit all meinen Sinnen genauer wahrnehme. Unter den Sohlen meiner ausgetretenen Stiefeln höre ich bei jedem Schritt das knirschen der abgefallenen Blätter und durch den kurzen Regenschauer einige Stunden zuvor, steigt der Geruch nasser Erde in meine Nase. Nachdem ich mich aus der kurzen Trance befreie, indem ich die Augen wieder aufschlage, versuche ich wieder den Kopf frei zu bekommen und ordne dabei meine Gedanken.

Einerseits neugierig, weil ich an diesem Tag eine 180 Grad Wende meines Lebens erlebe andererseits fassungslos, da sich der Moment so surreal wie ein Fantasy-Film anfühlt, stehe ich nun auf dem Kieselweg zum Parkplatz und sehe mir die allzu bekannte Umgebung ein letztes Mal an. Heute bemerke ich alles in einem anderen Licht, viel positiver und heller als in den vergangenen drei Jahren (zwei Monate, drei Wochen und fünf Tage). Sonst war die Atmosphäre immer trüb, dumpf und aussichtslos gewesen. Jedoch wurde mir vor einigen Wochen die gute Neuigkeit überbracht. Jetzt stehe ich wirklich hier und bin dem Abschied so nahe wie noch nie.

Ich bin frei.

Wie ein Vogel, der aus seinem Käfig in die Freiheit gelassen wird. Ein Unschuldiger, der nach monatelangen Verhandlungen aus dem Gefängnis entlassen wird. Ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft. Ein Astronaut, der nach seiner langen Reise endlich wieder zuhause ankommt.

Das Gefühl von Freiheit ist berauschend. Endlich raus, weg von den Menschen, die nur "das beste für dich" wollen, doch dich behandeln, als wärst du im Knast. Schluss damit - nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Nach langem Warten bin schlussendlich auch ich an der Reihe. Theoretisch gibt es keine strikten Regeln oder Verhaltensvereinbarungen mehr, keine vierteljährlichen Krankenkontrollen geschweige denn Geschlechtertrennung. Dürfte ich jetzt machen, was ich will? Jeden Tag etwas Anderes erleben - es wird keiner mehr dem anderen gleichen, immer wieder neue Abenteuer. Und vor allem werde ich Spaß daran haben. Mein Leben leben. Meine große Liebe finden. Die Welt erkunden. Auf Partys feiern. Die Musik in allen Adern spüren. Adrenalinschübe. Schmetterlinge im Bauch, kribbeln auf den Lippen und Alkohol im Blut.

Die ganzen Wimpern, Wunschkerzen und Sternschnuppen haben sich doch gelohnt. Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Es ist zwar nur ein simples Wort, doch für mich bedeutet es die Welt:

Neuanfang.

Raus aus dem Kinderheim und rein in die neue Familie.

Selbst wenn ich in die schrecklichste Familie aller Zeiten gesteckt werden würde, wäre sie trotzdem um Welten besser als dieser Zustand hier.

Dieser Tag bedeutet mir mehr als alles andere. Es gäbe vermutlich nur eine Sache, die dieses Ereignis übertreffen könnte, jedoch ist sie so unrealistisch, dass ich nicht einmal wage es auszusprechen. Nichts und niemand kann mir diesen Tag vermiesen. Sei es Freitag der 13., mir würde eine schwarze Katze begegnen und ich laufe unter einer aufgestellten Leiter durch.

Auch nicht, wenn mich der Teufel höchst persönlich besuchen würde. Denn ich bezweifle, dass er seiner größten Konkurrenz über den Weg laufen möchte.

Und so stehe ich hier, am womöglich schrecklichsten Ort meiner Jugend und grinse wie ein Honigkuchenpferd vor mich hin, kaum erwartend, dass sich die schwere Eingangstür zu meiner Rechten öffnet.

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