13 Tage und 2 Stunden, bevor ich Dich traf

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Als ich in den Bus einsteige, sehe ich Austins Hinterkopf, der gerade noch einen freien Platz neben einem Mädchen erwischt. Ich bin bei der Haltestelle leider zu weit hinten gestanden, um noch einen Sitzplatz zu bekommen. Nun stehe ich also inmitten eines Haufen pubertierender Mitschüler, die ihre Körpersekrete noch nicht ganz im Griff haben und sogar zu dieser Jahreszeit stinken, als hätten sie ununterbrochen Sport gemacht. Mit jeder Haltestelle wird der Bus zum Glück leerer und ich bekomme etwas mehr Luft zu atmen. Obwohl schon einige Plätze frei geworden sind, stehe ich trotzdem noch am Gang, da ich ab und an zu Austin sehe, der zu meinem Pech noch immer neben dem Mädchen sitzt. Mir ist nämlich eingefallen, dass ich ihn noch fragen wollte, was gestern mit ihm los war, denn ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Dafür war die Zeit im Bus optimal, da daheim jederzeit jemand heimkommen könnte und ich nur ungerne am versammelten Mittagstisch eine so persönliche Frage stellen würde.

"Hey, Austin!" rufe ich ihm hinterher, da er mich beim Aussteigen nicht bemerkt hat. Er dreht sich dadurch um und sieht mich kraftlos an. "Oh, hallo Sam, hab dich gar nicht gesehen", begrüßt er mich und legt einen Arm auf meine Schultern, um mich brüderlich näher zu ziehen, sobald ich ihn erreicht habe. "Na, was gibt's? Wie war die Schule so?"

"Alles gut, die Schule ist nicht mal so übel", antworte ich wahrheitsgemäß und denke kurz nach, wie ich meine Frage am besten verpacken sollte. Etwas zu kurz. "Wie geht's dir? Mir ist es gestern so vorgekommen, als ob dich etwas beschäftigen würde", frage ich schließlich ganz offen, da ich echt nicht gerne um den heißen Brei rede. Das ist ziemlich unerwartet gekommen, merke ich an seinem überraschten Blick. Der Schmerz in seinen Augen leuchtet kurzzeitig wieder auf. Seine Schritte werden langsamer und er baut etwas Abstand zwischen uns auf, weshalb er auch seinen Arm wieder zu sich nimmt. Nur du kannst solche kleine schöne bonding-Momente in dieser kurzen Zeit zerstören. Höchstleistung, bravo. Toll gemacht.

"Sorry, falls die Frage zu persönlich ist. Ich hätte nicht fragen sollen... tut mir leid, war blöd von mir. Ich weiß auch nicht seit wann ich so offen auf Leute zugehe", nuschle ich als Entschuldigung und fahre mir angeregt durch die Haare. Er seufzt und schüttelt dabei seinen Kopf. "Nein, kein Ding, Sam. Du bist ja ein Teil der Familie, ich sollte versuchen etwas offener mit dir zu reden. Ich wollte es dir gestern nicht sagen, weil ich mir gedacht hab, dass du es in der Schule schon mitbekommen hast. Außerdem wollte ich noch abwarten, um dich besser einschätzen zu können. Ich weiß, was du alles erlebt hast und dass-"

"Und jetzt glaubst du ich bin eine fragile Persönlichkeit, die selbst nach vier Jahren ihr Leben noch nicht im Griff hat. Ist schon klar, denkt jeder. Aber vertrau mir, ich hab daraus gelernt, kann ziemlich viel wegstecken", sage ich leicht beleidigt, da er mich so falsch einschätzt. Wenn man mit 13 lernt, alleine auf sich aufzupassen, dann wächst man auch aus der Erfahrung und bildet Jahr für Jahr immer dicker werdende Mauern aus Stahl um sich. Sie haben mich bis jetzt immer geschützt und mir Halt gegeben, egal welche Rückschläge ich erfahren musste.

Austin sieht mich verständnisvoll an und nickt dabei. "Es tut mir wirklich leid. Ich kenne dich noch kaum und das ist ein schwieriges Thema. Damit kann man nicht mit jeder Person am Mittagstisch plaudern", erläutert er seine Situation. Eine meiner Schwächen ist es, impulsiv zu handeln und meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, wie es sich schon viel zu oft herausgestellt hat, bringt es meinen Mitmenschen nichts Gutes. "Versuch doch nächstes Mal einfach, mich wie eine normale Person zu behandeln und nicht wie eine Porzellanpuppe", schlage ich gereizt vor. "Du verstehst mich nicht", meint er leise, woraufhin ich meinen Mund halte. Meine Schuld ist es, dass wir den restlichen Weg jetzt stumm nebeneinander nach Hause gehen.
Armer Austin, sei nett zu ihm. Er will dir ja nichts Böses.

Doch als wir endlich zuhause ankommen, sieht er kurz auf seine Armbanduhr, bevor er mich entschlossen am Handgelenk fasst und mich ins Wohnzimmer zieht, noch ehe ich mir die Jacke richtig ausziehen kann. "Ich wäre dir auch gefolgt, wenn du mich nett gefragt hättest", murmle ich, was er jedoch gekonnt ignoriert. Anstatt zu antworten setzt er mich nämlich auf die riesige blaue Couch aus Samt, bevor er vor mir in die Hocke geht und sich zu beruhigen versucht, indem er tief ein und ausatmet. Es scheint ihm wirklich wehzutun, darüber reden zu müssen, da er sicherlich eine halbe Minute auf die Seite blickt stumm nachdenkt. Als er schlussendlich vorbereitet ist, sieht er mir intensiv in die Augen und beginnt im Flüsterton mit mir zu reden, als wären seine Stimme das Packet zerbrechlicher Last, auf dem auf jeder Seite abermals „ATTENTION FRAGIL" obensteht. Der Inhalt ist nichts anderes als seine Worte, die sich wie laute Musik den Weg in mein Gehirn bahnen: "Ein Freund von mir wollte sich gestern das Leben nehmen. Er ist im Treppenhaus der Schule aus dem zweiten Stock gesprungen. Jetzt liegt er auf der Intensivstation, das heißt, er wird künstlich beatmet, hängt an Monitoren und wird rund um die Uhr überwacht. Hat Knochenbrüche, innere Blutungen. Ich weiß ja nicht wie du dich an einem Tisch mit einer 12- Jähriger und einem Mädchen mit schwerer Vergangenheit verhalten würdest, aber ich erzähl da mal lieber von Volleyball anstatt von meinem psychisch kranken Freund", erklärt er mir ruhig und trocken. Danach fährt sich Austin mit den Händen über sein Gesicht, setzt sich auf den Boden und lehnt sich neben mich gegen die Couch.

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