13 Tage und 8 Stunden, bevor ich Dich traf

41 7 0
                                    

7:30 Uhr, ich bin auf dem Weg zu meiner Klasse. Am Gedanken daran, dass ich erneut einen langweiligen Tag mit unfreundlichen Mitschülern verbringen muss - mit denen ich mich bestenfalls noch anfreunden sollte, würde ich am liebsten abhauen. Denk nicht mal daran, Sam. Schaff dir keine unnötigen Probleme, meint meine innere Stimme. Ohne ihr hätte ich schon abermals den Verstand verloren... und es ist erst der zweite Schultag.

,,Ey, Kleine! Ähm... Samantha! Komm mal her" ruft mir eine bekannte Stimme zu, als ich die Klasse betrete, worauf mich die Mädchen in den vorderen Reihen irritiert mustern. Atmen. Ignorieren. Bis jetzt hast du es auch geschafft, dich normal zu verhalten.
Oh nein, Samuel hat gestern die Wahrheit gesagt. Callum ist auch hier. Shit, sie gehen beide in meine Klasse. Das hab ich jetzt davon, dass ich gestern zu den Typen gegangen bin.

Augenverdrehend gehe ich zu ihnen, lasse mir nicht anmerken, dass ich mich insgeheim freue, nicht alleine in diesem Loch zu sitzen. Noch bevor Samuel weitersprechen kann, verschränke ich die Arme vor meiner Brust, ziehe die Augenbrauen hoch und siehe ihn skeptisch an. "Ich bilde mir ein, dass dein Freund gestern gesagt hat, dass nur Genies diese Schule besuchen. Doch man muss wohl kein Superhirn sein, um zu wissen, wie man richtig mit einem Mädchen spricht, oder?", jetzt muss ich denen noch Manieren beibringen, oder was?

,,Madame, wären sie so gnädig sich zu uns zu gesellen?", fragt er nach kurzem Überlegen und macht einen kleinen Schritt rückwärts, um sich daraufhin vor mir zu verbeugen. Auch wenn er damit vielleicht etwas übertreibt, könnte ich mich gut daran gewöhnen.
Die restlichen Jungs können sich das Lachen nicht verkneifen, doch Sammuel sieht kein bisschen peinlich berührt aus, muss wohl der Klassenclown sein. Ich schaue die beiden einige Sekunden lang irritiert an, ist an der Sache etwas faul? "Unter welcher Bedingung?", hinterfrage ich überrumpelt, da ich nicht im geringsten damit gerechnet habe, dass sie mich noch einmal ansprechen würden. Wir haben uns gestern zwar kurz unterhalten, aber nicht mehr als das - eher ein eigenartiges, unwillkürliches Zusammentreffen.

Callum schüttelt schiefen lächelnd den Kopf, sodass ein Grübchen sichtbar wird, während er cool gegen einen Tisch lehnt und erwidert: "Aus welcher kaltblütigen Schule kommst du denn? Sam, das ist dein Part." Oh, wenn du nur wüsstest. Samuel räuspert sich, bevor er sich aufrichtet, seine Schultern strammt, beide Hände hinter dem Rücken verschränkt und schließlich wieder übernimmt: "Die Haileybury School ist nicht nur für die ausgezeichneten Leistungen ihrer Schüler*innen, die breitgefächerte Auswahl an Freifächer und für die best ausgebildeten Professoren bekannt, sondern erreicht ihr hohes Ansehen vor allem durch das gemeinschaftliche und zuvorkommende Zusammenleben von Schülern, Eltern und Professoren. Hiermit lade ich auch Sie ein, Teil dieser Schule zu sein. Im Flyer stehen Kontaktdaten, sowie anfallende Kosten und Pflichten. Auf Wiedersehen und hoffentlich bis bald", spielt er wie vom Tonband runter, doch voller Enthusiasmus und mit der Stimme eines richtigen Werbemannes.

Bevor ich etwas fragen kann, fällt mir die Lehrerin ins Wort, die auf einmal vor der Tafel steht: "Danke Samuel, das sollte uns bereits allen bekannt sein. Aber danke für die Erinnerung, Samantha soll sich genauso wohl fühlen wie ihr, auch wenn sie nicht von Anfang an bei uns war." Während sie dank den Jungs eine Predigt von guten Umgangsformen hält, flüstert mir Callum zu "Bildungsmesse im Sommer, hat er nicht so gut überstanden", dabei tippt er sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn, als hätte Sam einen Vogel. "Mein lieber Zögling, nun zügle deine Zunge. Mein Geldbeutel hat davon reichlichst profitiert", erklärt Sam leise, "Außerdem ist eine kleine STUVAK immer angebracht", ergänzt er zwinkernd. Mein Gesichtsausdruck sieht anscheinend so verwirrt aus, dass er mir von selbst Klarheit schafft "STUVAK, du weißt schon, Stundenverkürzungsaktion", mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er mich erwartungsvoll an. Als ich dann etwas erhellt, aber immer noch ein wenig irritiert den Kopf schüttle seufzt er "Du lebst also wirklich noch hinter dem Himalaja", das bringt mich dann endgültig zum Lachen und nun bin ich an der Reihe mit dem Kopfschütteln "Man sagt definitiv Mond", flüstere ich ihm unbekümmert zu.

***

Also sitze ich die nächsten sechs Stunden zwischen Callum und Samuel, die rein gar nichts von irgendeinem Unterrichtsfach mitbekommen. In den ersten zwei Einheiten habe ich bereits herausgefunden, dass Callum damit beschäftigt ist, alle fünf Minuten über den Bildschirm seines Smartphones zu scrollen und hin und wieder einige Nachrichten zu verfassen. Sam ist drauf und dran mir Fragen zu stellen, die er auf ein Post-it klebt und die ich gelegentlich mit Gegenfragen beantworte, wenn ich gerade nicht von der Tafel abschreibe. Am Ende der dritten Einheit sind sie schon so quirlig wie Kleinkinder, die spielen möchten. Sie schießen sich gegenseitig mit Papierkügelchen ab, nennen es blöden Zufall, dass ich dazwischen sitze und fragen mich über mein Privatleben aus. Komischerweise macht der Physiklehrer keine Anstalt, die beiden auseinander zu setzten, sondern führt seelenruhig seinen Unterricht fort.

"Im Ernst jetzt, was hat euch dazu gebracht, euch zum Außenseiter zu setzen? Von der außerordentlichen Freundlichkeit der Mitschüler hätte ich noch nichts mitbekommen", flüstere ich ihnen zu, während ich etwas von der Tafel abschreibe. Callum setzt wieder sein schiefes Lächeln auf "Ich weiß auch nicht, du warst gestern ganz sympatisch, da haben wir uns gedacht, wir lernen dich mal ein bisschen besser kennen." "Außerdem ist es doch meine Pflicht als Klassensprecherstellvertreter, die Klasse zusammen zu halten", ergänzt Samuel grinsend.

In der Mittagspausen bin ich wirklich froh, sie bei mir zu haben. Ich komme mir nicht mehr vor wie der größte Außenseiter vor und kann nach langer Zeit wieder normale Gespräche mit Leuten führen, sie kennenlernen. Übrigens bekommen sie in den 10 Minuten das zurück, was sie mir eine Stunde lang angetan haben. Denn ich frage sie über die Schule und Mitschüler aus, während wir über den Schulhof schlendern. Als wir den Weg zu Adam einschlagen, der auf einer Bank sitzt und telefoniert, muss ich ihnen erklären, dass ich die letzten vier Jahre nur mit Mädchen unterrichtet wurde. "Adam, die Kleine hat ihr halbes Leben in einem Nonnenkloster verbracht, ist das nicht schräg?", verdreht mir Samuel die Worte im Mund.

Adam zwingt sich ein freundliches Lächeln auf, welches jedoch sehr gequält ausschaut. "Was ist los?", frage ich daher sofort, nicht nur um von den Fake News wegzukommen, sondern auch, weil er wirklich bedrückt wirkt. Er sieht mich etwas verlegen an und kratzt sich am Kopf "Es gibt nur ein paar, wie soll ich sagen... Probleme mit dem Bruder von Will. Aber machen wir uns darüber jetzt keinen Kopf, das erledige ich nach der Schule", meint er beschwichtigend und sieht seine zwei Freunde vielsagend an.

"Ihr braucht keinen Eiertanz aufzuführen, ich muss sowieso noch etwas aus meinem Spint holen, bevor die nächste Stunde anfängt. Dann könnt ihr all-", bin ich gerade dabei vorzuschlagen, als mich Callum an der Schulter hält und mich unterbricht. "Nein, schon gut. Das hat Zeit. Tut uns leid für das Verhalten. Aber wie wäre es mit einem Abstecher zur Cafeteria? Hab heute noch nichts gegessen." Die anderen stimmen ihm zu, weshalb wir zehn Minuten später zu viert an einem Tisch sitzen und essen.

Die Stimmung hat sich nach dem Essen wieder erhellt, so ist es dazu gekommen, dass ich mit einem Lachanfall auf Callums Rücken quer durch die Gänge in Richtung Klassenzimmer stolpere. Dadurch, dass Samuel vor uns wie ein Model auf einem Laufsteg zu gehen versucht und Adam leise neben mir peinliche Geschichten von Lehrern erzählt, sehe ich auch kein Ende dieser Tirade. Dabei fallen mir zwei Dinge auf.

Erstens: Die Jungs haben die Fähigkeit, jederzeit im Rampenlicht zu stehen. Auch wenn es mir nichts ausmacht, glaube ich, dass mich das möglicherweise in Schwierigkeiten bringen könnte. Die Blicke mancher Mädchen sind giftig, andere sieht man angeregt plaudern, während sie in unsere Richtung sehen. Doch all das blende ich momentan aus, da mein Blick ganz dem eleganten Gang von Samuel gewidmet ist, der voller Elan in die Klasse spaziert.

Zweitens: Ist es nicht eigenartig, wie schnell ich mich mit den Jungs angefreundet habe? Ich bin zwar überglücklich, dass ich durch einen verdammten Zufall auf sie gestoßen bin, habe aber andererseits noch immer bedenken, dass hier irgendetwas im Busch steckt. Ich bin nicht so sympathisch, dass man sich von einem Tag auf den anderen mit mir anfreunden würde. Oder freundet man sich mit Jungs einfach viel schneller an als mit Mädchen?

Fühlt sich jedenfalls seltsam an. Schon lange her, dass ich so etwas erlebt habe. Als wäre man nach einer langen Hungerperiode wieder satt. Nur, dass dieses Gefühl im Herzen liegt. Es ist nicht mehr so leer und beinhaltet vor allem nicht nur die Seelen zweier Verstorbenen. Oh Mom und Dad... hättet ihr gedacht, dass ich jemals Freunde schließen würde? Genial, was? Beinahe hätte ich gedacht, dass ihr für immer meine zwei einzigen Freunde bleiben werdet. Ich liebe euch.

Chewing GumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt