16 Tage, bevor ich Dich traf

88 12 1
                                    

"Samantha Mackenzie Bail, es war mir ein... Erlebnis, dich kennenzulernen. Ich wünsche dir und deiner neuen Familie noch eine tolle Zukunft", verabschiedet sich Mrs. Grantham von mir, zum bestimmt dritten Mal in der letzten halben Stunde. Nun aber förmlich und mit ihrem aufgesetzten Lächeln, sodass die Falten ihres alten Gesichtes noch tiefer wurden.

Als Antwort nicke ich mit einem ebenso bescheuerten Lächeln, jedoch bringe ich es im Gegensatz zu ihr nicht über meine Zunge, irgendwelche netten Worte zu lügen. Das ist mir schon immer schwer gefallen.

Ihr matriarchalischer Ton wird mich bis auf Lebenszeit begleiten, denn diese starke sowie kalte Frauenstimme, passt zu keinem Mensch besser, als zu meiner langjährigen Heimleiterin. Es ist mir schon immer klar gewesen, dass sie sich noch in Ewigkeiten freuen würde, wenn ich endlich aus diesem Loch komme. Doch dieses Glück beruht auf Gegenseitigkeit, da diese Frau nicht nur eine humorlose, einsame Seele war, sondern auch noch so gefühlskalt, dass schon ihre Blicke reichen, um mir einen kalter Schauer über den Rücken zu jagen.

Bin ich froh, dass ich sie heute zum letzten Mal sehe.

Um unserer Beziehung jedoch ein wenig Würze zu verleihen, habe ich mich nie davor gescheut, ihr einige Streiche zu spielen oder meinen Mund an den unangebrachtesten Momenten aufzureißen. Demzufolge bin ich öfter im Direktorat gesessen, als alle anderen Kinder gemeinsam. Dabei ist es vielleicht erwähnenswert, dass ich mit meinen beinahe 17 Jahren eine der ältesten im Haus war und von mir eigentlich am meisten Anstand erwartet wurde. Jedoch ist das Leben in so einem Heim dermaßen langweilig, dass ich bei jeder Gelegenheit versucht hatte, die Stimmung ein wenig aufzuhellen. Die Anderen wollten mir nie dabei helfen, aber das hatte mich nicht aufgehalten. Ich kann mich noch erinnern, als ich Kleber auf Mrs. Granthams Stuhl geschmiert habe oder als ich alle WC-Türen von innen verschlossen habe, rausgeklettert bin und sich alle beinahe in ihre weißen Pyjama-Baumwollhosen gemacht haben.

Das sind die schönsten Erinnerungen an die alten Zeiten.

"Samantha, kommst du bitte?", ruft eine helle, liebevolle Stimme nach mir, meine neue Adoptivmutter Rebecca. Sie ist schlank, athletisch gebaut und ihre honigbraunen Augen strahlten mich voller Freude an. Ihr Gesicht scheint perfekte proportioniert zu sein, schmal und zierlich, die Wangenknochen herausstehend und das Kinn klein und rundlich. Darüber entsteht ein so sanftes Lächeln, welches nur eine Mutter tragen kann.

Erst jetzt bemerke ich, dass Mrs Grantham schon längst weg ist und ich mit einem eigenartigen Grinser sekundenlang auf die holzige Eingangstür des weinroten Waisenhauses starre. Ein letztes Mal blicke ich auf das Schild, welches sich daneben angebracht ist. "Pflegekinder- und Fürsorgeerziehungsheim" steht darauf geschrieben, wobei ein vom Grauen erlöstes Lächeln reicht, um mich endgültig davon abzuwenden.

Schnell drehe ich mich um, beiße mir auf die Unterlippe, um nicht weiterhin so bekloppt herumzugrinsen und laufe in Richtung Parkplatz, wo ein schwarzer Tesla mit vier neugierigen Passagieren auf mich wartet. Alle habe ich bereits kurz kennengelernt, trotzdem werde ich höflich begrüßt und Willkommen geheißen. Daraufhin steigen wir alle ins Auto und ich bekomme den einzigen noch leeren Sitzplatz neben einem circa 12-jährigen bildhübschen Mädchen mit hellbraunem Haar, wie das ihrer Mutter. Schluss mit anstarren, anschnallen und zusehen, dass dein Adrenalin sich wieder senkt, ermahnte ich mich zu selbst.

Doch als ich den Motor leise aufbrummen höre und sich der Wagen in Bewegung setzt, überfällt mich der nächste Schub an Aufregung.

Denn mein neues Leben fängt an.

Genau jetzt.

Aber ich habe nicht genügend Zeit, mir weiterhin darüber Gedanken zu machen, denn die Familie erzählt von ihrem, bald auch meinem Zuhause, machen Späße und durchbohren mich natürlich auch mit Fragen. Zum Glück sind es hauptsächlich welche zu meinen Interessen, sodass die gute Stimmung nicht zerstört wird. Meine dunkle Vorgeschichte kennen sie vermutlich schon, da all meine Daten in den Akten von Mrs Grantham zusammengefasst waren. Dieses Mal bin ich über diese Tatsache sogar ganz froh, denn damit kann ich mir diesen Teil sparen.

***

Obwohl das Kinderheim ziemlich weit von jeglicher Zivilisation entfernt ist, verging die Fahrt wie im Nu. Jeder hatte etwas zu erzählen, vor allem das junge Mädchen neben mir scheint sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Nachdem das Auto geparkt und mein mickriger Koffer ausgepackt ist, führt mich Rebecca ein bisschen durch das Haus.

Schon beim Eingangsbereich angekommen, wird bemerklich, dass es sich um eine wohlhabende Familie handelt. Möglicherweise hätte mir ihr großes Auto bereits auffallen sollen. Wie ich seit längerem weiß, sind die Eltern Ärzte, die jeweils ihre eigene Praxis führen. Nach dem ersten Schritt in mein neues Zuhause kann ich nun mit Sicherheit korrigieren: Villa würde es besser beschreiben. Während ich erstaunt die großen Glaswände empor sehe, geht die restliche Familie an mir vorbei, schließt die Tür und versammelt sich in der Küche, um vermutlich das gemeinsame Abendessen vorzubereiten.

Die großen, hohen Räume mit den riesigen Fenstern und den frischen weißen Wänden lässt das Gebäude noch teurer aussehen, als es ohnehin schon ist. Die Dekoration war bis ins kleinste Detail auf die Möbel abgestimmt, womit es sich anfühlt, als stünde man in einem Zimmer eines Möbelkataloges.

,,Willst du nicht dein neues Zimmer sehen?", fragt mich Jonathan, der Partner von Rebecca, der eben aus der Küche zurückkommt. Ich erschrecke kurz, da ich völlig ins Träumen verflogen bin, aber dann nicke ich begeistert und folge ihm und Rebecca ins zweite Stockwerk, wo mir mein neues Zimmer präsentiert wird.

Es ist genauso groß, atemberaubend und hell wie die anderen. Das einzige was mich stört, ist die Farbe der Einrichtung. Alles ist in weiß gehalten und scheint makellos zu sein. Natürlich sieht es gepflegt, rein und nagelneu aus, keine Frage. Überdies unterstreicht es auch meinen Neuanfang. Doch nun brauche ich wortwörtlich einen Tapetenwechsel. Ein wenig Farbe in meinem Leben. Nach meiner Vergangenheit will ich die Langweile aus meinem Leben vertreiben, deswegen passt weiß überhaupt nicht in mein Konzept. Allerdings lasse ich diesen kleinen Nebenpunkt fürs Erste im Hinterkopf, da die Familie und die Villa wunderbar genug sind, darüber kann ich mich nicht beklagen.

Was mich an einem Freitag Abend mehr durch den Kopf geht: Der kommende Montag.

Es ist eine Mischung aus Neugier, Freude und Aufregung, die meinen Magen dazu bringt, sich bei dem Gedanken an die neue Schule immer wieder zusammenzuziehen.

Chewing GumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt