Jack rührte sich nicht. Vor seinem inneren Auge zog ein Film vorbei. Aber nicht der seines eigenen Lebens, sondern der des Mädchens. Sie trug ulkige Kleidung, sprach vornehmer, hochnäsig, aber dennoch angenehm. In der nächsten Szene spielte sie mit einem Jungen, augenscheinlich gesehen war es ihr Bruder. „Anna", rief der Junge über das Rosenbeet hinweg. „Komm, Mutter wartet auf uns." Schnell nickte Anna, sprang über das Beet hinweg und lief ihrem großem Bruder nach. Sie schritten durch ein prunkvolles Tor. Das nächste was Jack sah, war wie Anna Wutendbrand zum Brunnen lief und sich auf ihm nieder ließ. Folgend sah man eine schwarzgekleidete Person anschleichen. Rücksichtslos stieß diese Anna von hinten in den Brunnen. Ein letzter engelsgleicher Schrei erklang, ehe das Wasser ihre Lungen auffüllte und sie jämmerlich ertrank. Die schuldige Person zog ihre Kapuze hinunter, sah in den Brunnen und fing an laut und hemmungslos zu lachen. Unter der Kapuze befand sich der Bruder. Der eigene Bruder hatte seine kleine Schwester umgebracht. Eigenhändig. Ohne einen Schimmer von Reue zu zeigen stand er da und sah auf den toten Körper. Seufzend fuhr er sich durch seine schwarzen Haare, das einzige Merkmal, was zeigte, dass Anna und er überhaupt verwand sein konnten. „Endlich bin ich deren Lieblingskind", sagte er, ehe er ich umdrehte und sich beinahe unsichtbar zurück zum Palast begab.
Als Jack endlich wieder eine Augen öffnen konnte, fühlte er ich, als hätte er Tage geschlafen. Ächzen setzte er sich auf, schloss die Truhe. Was er dann sah, ließ ihn zusammenzucken. Seine Haut ging ins graue. Sie schimmerte gräulich. Nachdem er sich weitestgehend beruhigt hatte, stand er zaghaft auf, um den Dachboden wieder zu verlassen. Bevor er jedoch die Luke erreichen konnte, fiel ihm ein Buch praktisch auf den Kopf. „Familie von Buschendorf", stand dort in kalligraphischer Schrift. Es war fast, als wollte jemand, dass Jack dieses Buch las. Mit schmerzendem Kopf stieg er die alte Leiter herunter, schloss sie ab, sobald er sicheren Boden unter den Füßen hatte. Wie jeden Abend ging er in das große Wohnzimmer, um sich dort in den Handsessel zu setzen. Vorsichtig schlug er das alte Buch auf und fing an über die Familie Buschendorf zu lesen. Die Geschichte und Schicksalsschläge der einzelnen Familienmitgliedern fesselte ihn, zog ihn förmlich in seinen Bann. Anna, gehörte auch zu der Familie. Ebenso wie ihr Bruder Maurice. In dem Buch stand, dass Annas Tod ein Unfall war. Maurice wurde alleiniger Erbe, heiratete eine reiche Baronin und bekam drei Kinder. Kähte, Henry und Colista. Käthe verstarb im Alter von 4 durch ein Erdbeben, welches sie im Schlaf verschlang. Henry heiratete eine Dame aus reichem Hause, verwitwete allerdings wenige Monate darauf, als die Lungenpest seine Frau umbrachte. Und Colista? Von Colista stand lediglich, dass sie im Alter von 18 ins Ausland geflüchtet war. Jack sah sich das Portrait von Colista genauer an. Irgendwie erinnerte sie ihn an sich selbst. Er stellte fest, dass sie die selben Augen hatten. Doch das konnte nicht sein. Colista lebte rund 500 Jahre vor seiner Geburt. Auf der letzten Seite des Buches stand der Standort der Familiengruft. Der Friedhof war ganz in der Nähe. Jack beschloss, morgen dort vorbei zu schauen, vielleicht fand er dort des Rätsels Lösung.
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Nights
NouvellesNights ist eine Kurzgeschichte, die ich vor Jahren geschrieben habe