Tavan schickte Braen und Rout mit einer Botschaft zum Fürsten in Faest. Für ihn ging es nach Osador, östlich von Vesil. Der Ritt dauerte drei Tage. Es waren die schwersten drei Tage, die Tavan bis zu diesem Zeitpunkt je erlebt hatte. Prinzessin Elana litt an einer unbekannten Krankheit, die keiner heilen konnte. Keiner wusste, wie lange ihr schwacher Körper noch durchhalten würde. Deshalb musste sie im Schloss bleiben. Es war ihre Freiheitsliebe, die sie dazu bewegte, weg zu rennen und sich als ärmliches Bauernmädchen zu verkleiden. Der Sklavenhändler fand sie, als sie gerade die Grenze zwischen Osador und Vesil passierte. So gesehen war es gut, dass Tavan sie gefunden hatte.
Die ersten beiden Tage sprach sie kaum mit ihm, aber am dritten Abend setzte sie sich mit seiner Laute neben ihn. »Ich möchte für Euch spielen«, sagte sie.
»Fühlt Ihr Euch denn in der Lage dazu?«
»Meine Krankheit wird mich wohl kaum vom Spielen abhalten.« Sie schürzte die Lippen.
»Habt Ihr mir denn verziehen?« Tavan stocherte mit einem Stock im Feuer herum.
»Ich muss Euch nicht verzeihen, Tavan.« Sie zog die Mundwinkel zu einem verführerischen Lächeln nach oben. Hatte diese Frau überhaupt eine Ahnung, was für eine Wirkung sie auf Tavan hatte? Sein Herz stolperte in einem wilden Rhythmus durch die Gegend, wenn er bei ihr war. Er musste ihr nur in die Augen blicken und sofort hatte er dieses Verlangen nach mehr.
»Nicht?«
»Ihr müsst Euch selbst verzeihen.« Sie begann zu spielen. Tausend Träume regneten vom Himmel, strahlten der untergehenden Sonne entgegen, verwandelten die Bäume des Waldes in schwarze Tänzer und ließen den Gesang der Vögel verstummen.
»Begehrt Ihr mich?«, fragte sie, ohne ihre Melodie zu unterbrechen. »Begehrt ihr Len? Hattet Ihr Euch nicht gewünscht, ich wäre eine Prinzessin? Was wünscht Ihr Euch, Prinz Tavan ?«
»Wieso möchtet Ihr wissen, was ich mir wünsche?«
Elana schwieg. Sie schien sich in ihr Spiel vertieft zu haben. »Was wünscht Ihr Euch, Prinzessin?«, fragte Tavan nach einer Weile.
»Ich wünsche mir, dass Ihr mich Len nennt und duzt.«
»Aber eure Hoheit ... « Tavan konnte sie nur verwundert anschauen. Unter all dem, was sie sich hätte wünschen können, wollte sie, dass er sie duzte? »Das geht nicht.«
»Begehrt Ihr mich, Prinz Tavan ?«
»Wieso fragt Ihr mich das nur unentwegt?« Er schluckte. Heißes Blut floss in sein Gesicht und er neigte den Kopf.
»Die meisten bewundern meine Schönheit, aber sie fürchten mich. Sie begehren mich nicht, sie haben Angst.«
»Angst? Wovor?« Tavan konnte nicht verstehen, wie man vor Elana Angst haben konnte. Ihr Körper war so zierlich, ihr Gesicht zart und fein, die Augen rundlich und grünbraun.
»Der Tod umgibt mich. Fürchtet Ihr den Tod?«
»Fürchtet nicht jeder den Tod?«
Elana verspielte sich. Der falsche Ton erschreckte einige Vögel, die genauso wie er selbst in ihrer Melodie gefangen gewesen waren. Schnell hatte sie wieder die richtigen Akkorde. »Ich fürchte Euch nicht, Prinzessin.«
»Nennt mich Len.«
»Das kann ich nicht.«
»Dann seid zumindest ehrlich und gebt mir eine Antwort.«
»Eine Antwort, worauf, Prinzessin?« Tavan ahnte, worauf sie hinaus wollte und er wollte es so weit wie möglich hinaus zögern.
»Habt Ihr Len begehrt?«
Tavan schaute in das Feuer. Die Funken stoben in den blau grauen, früh nächtlichen Himmel.
»Ja«, sagte er heiser und räusperte sich. Prinzessin Elana legte die Laute bei Seite.
»Dann lasst mich«, seufzte sie und lehnte sich gegen seine Schulter, »noch eine Weile Len sein.«
Heiße Schauer jagte Tavans Arm entlang direkt in sein Herz und alles, was er denken konnte, war: Ich will dich, nur dich. Ich will dein mehr.
Er legte einen Arm um sie und ignorierte die skeptischen Blicke des Prinzen. Schließlich hatte sich Elana ganz von selbst an ihn gelehnt. »In Ordnung. Für diesen Moment bist du Len. Meine Len.«
»Was wünscht Ihr Euch, Prinz Tavan ?«, flüsterte sie zufrieden.
Ich wünsche mir mehr. Ich wünsche, deine Liebe. »Ich wünsche mir, dass du wieder gesund wirst, Len.«
»Ich wünsche mir, dass Ihr euch unter dem Himmel verneigt, Herr.«
Tavan lachte leise. »Fängst du schon wieder damit an? Und um Himmels Willen, nenn mich nicht Herr, das würde zu weit gehen.«
»Bitte lasst mich nur für diesen Abend Len sein, Herr.«
»Wieso willst du das so sehr?«
»Weil mein Stand dann keine Rolle mehr spielt.«
»Wenn unter dem Himmel alle gleich sind«, murmelte Tavan. »Dann ist es doch egal, welchen Stand du hast. Also nenn mich nicht Herr und benutze das Du.«
»Du hast es verstanden.« Sie drückte ihren Kopf an seine Schulter. »Jetzt musst du dich nur noch unter dem Himmel verneigen.«
»Soweit wird es nicht kommen.« Ein bisschen Stolz musste er schließlich noch behalten. Tavan schaute in die Sterne. Mehr. Ich will sie. Ich liebe sie. Sein Herz schrie stumm in die Nacht hinaus. Keiner hörte ihn. Keiner verstand ihn, keiner konnte wissen, wie er sich fühlte – er wusste es noch nicht mal selbst. Aber wenn es einer jemals verstehen konnte, dann war es mit Sicherheit Len. Prinzessin Elana Kahn von Endor.
Tavan geleitete die Prinzessin sicher nach Hause. Ihn erwartete keine Strafe, aber auch kein Dank. Er konnte nicht lange bleiben, da er sich verpflichtet sah, zu den Verhandlungen nach Faest zu gehen – wenn auch verspätet. Als er dort ankam, hatte man bereits nach seinem Vater schicken lassen. Tavan waren nur zwei Nächte Ruhe vergönnt, in denen er von Elana träumte und sehnsüchtig den Mond anschaute. Wann immer jemand eine Laute anspielte, konnte er nur an sie denken. Der Fürst über Faest war bekannt für seine glamourösen Feiern, doch Tavan fand darin keinen Gefallen.
Die Welt war lebendig. Seine Welt stand still. Er hatte das Gefühl, nur mit der Prinzessin lebendig sein zu können. Immer wieder musste er sich fragen, ob er überhaupt jemals lebendig gewesen war, bevor er sie traf. Er war ein ruheloser Geist auf der Suche nach mehr. Am dritten Tag auf Burg Luma in Faest, traf sein Vater, Fürst Elean Theo von Vesil, ein. Er war wenig erfreut, als er erfuhr, wer Len in Wirklichkeit war. Er war regelrecht erzürnt, auch weil Tavan zu spät zu den Verhandlungen eintraf und nur einen Brief schicken ließ. Solch eine Verhalten war respektlos und gefährlich. Tavan musste sich anhören, wie dumm und verantwortungslos er gehandelt hatte. Sein Vater war maßlos enttäuscht von ihm und Tavan konnte es ihm nicht einmal verübeln. Er war selbst enttäuscht. Womöglich konnte er sich nie wieder am Königshof blicken lassen. Er hatte nicht nur seinem Ruf geschadet, sondern auch dem seines Vaters und dem ganzen Haus Vesil. Prinz Tavan hatte seinen Stolz verloren, doch das war ihm erstaunlich gleichgültig. Er hätte nicht unzufriedener sein können, aber nicht wegen seinem verletzten Stolz und der Würde, die er verloren hatte, sondern weil sie nicht mehr an seiner Seite war. Tavan hätte fluchen und schreien können, weil er so machtlos war, weil er sich so sehr sehnte, dass es ihm den Schlaf raubte. Kaum war er wieder in Vesil angelangt, stürzte er sich in Wettkämpfe mit seinen Rittern. Der Kampf mit dem Schwert war alles, was ihn ablenken konnte, was ihn vergessen ließ, dass seine Welt still stand und dass er nach mehr verlangte. Sein Vater machte sich auf dem Weg zum König, er wollte die Schmach verringern, die Tavan über sein Haus gebracht hatte. Wie hätte er ahnen können, dass Len eine Prinzessin war? Er schlug mit der Faust gegen einen Sandsack. Das alles war nicht seine Schuld. Er rammte das Knie gegen den Sack, wirbelte herum und stieß mit dem Ellenbogen zu. Sie war unheilbar krank. Eine Reihe Faustschläge trafen ihr Ziel. Konnte er sie überhaupt jemals wieder sehen? Er sprang in die Luft, drehte sich und trat den Sandsack mit beiden Beinen, ehe er elegant auf den Boden landete und sich unter dem Sack hinweg duckte. Es klopfte an der Tür zum Trainingszimmer. Unwirsch riss Tavan die Tür auf und sah in die verängstigen Augen eines Botenjungen. »Verzeiht, Herr«, stammelte er. »Man sagte mir, ich würde Euch hier finden. Ich habe eine Botschaft, von der Prinzessin.« Er hielt ihm einen Brief entgegen. »Die Prinzessin?« Er riss dem Jungen den Brief aus den Händen und betrachtete das Siegel des Königshauses. »Danke. Du kannst gehen«, sagte er zu dem Botenjungen und zog sich selbst in seine Gemächer zurück. Er wartete nicht lange und öffnete den Brief. Seine Augen huschten so schnell über die Zeilen, dass er zunächst nicht verstand, was er da las. Er musste zunächst einen großen Schluck Wein zu sich nehmen und tief durchatmen, ehe er den Brief erneut und langsam lesen konnte.Prinz Tavan ,
es ist schändlich von Euch, dass Ihr Euch nicht mehr blicken lasst. Seit Ihr so voller Scham, oder ist es doch die Angst, die Euch im fernen Vesil hält? Ich wünsche Euch zu sehen, Tavan.
Ich wünsche mir Freiheit. Beschafft sie mir. Reitet mit mir über die Berge an das Meer.
Meine Zeit neigt sich langsam dem Ende, mein Herzschlag wird schwächer. Ich spüre, dass das Ende nah ist.
Mein letztes Lied soll Euch gelten. Euch und nur Euch allein.
Versteht Ihr die Bedeutung darin, dass ihr mich gekauft habt, auf dem Sklavenmarkt?
Könnt Ihr spüren, was ich spüre?Mein Vater wird mich nicht gehen lassen. Ihr müsst mich aus seinem Schutz befreien, denn auch seine Fürsorge kann mich nicht retten.
Ich werde Mutters und Vaters Herz brechen und auch das meines Bruders, aber wie soll ich je meinen Weg in den Himmel finden, wenn ich gefangen bin? Wie sollt Ihr je bekommen, was Ihr so sehr begehrt, wenn ich mich nicht mit Euch unter dem freien Himmel verneige?Habt Mut, Tavan. Ich erwarte Euch. Ich vertraue Euch. Ihr seid mein Befreier, mein Erretter.
Deine Len ...
Prinzessin Elana Kahn von EndorPrinz Tavan hatte seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr geweint. Seit dem Tag, an dem sein Vater ihn als einen ›wahren Mann‹ bezeichnete. Er weinte auch jetzt nicht, das gehörte sich nicht für einen Fürsten. Das gehörte sich nicht für einen Mann. Tavan war nicht schwach. Er riss sich zusammen. Er las den Brief noch einmal. Der König würde sie niemals gehen lassen. Er würde ihn vermutlich niemals in ihre Nähe lassen. Tavan wusste, was er tun konnte. Sein Vater würde ihn auslachen. Er würde es ihm verbieten. Es würde niemals funktionieren. Tavan fuhr sich durch die Haare. Er lief im Zimmer auf und ab. Meine Zeit neigt sich langsam dem Ende, mein Herzschlag wird schwächer. Ich spüre, dass das Ende nah ist. Er wollte sie sehen, er musste zu ihr. Mein letztes Lied soll Euch gelten. Euch und nur Euch allein. Er wollte sie in den Armen halten und sich fallen lassen , während sie ihre Melodie spielte. Niemals würde er sich verzeihen, wenn er sie sterben ließ, ohne sie noch einmal zu sehen. Nein. Es gab mehr zu tun, als nur das. Er musste ihr, ihren Wunsch erfüllen. Wer sonst könnte es tun? Wer sonst verstand ihren Wunsch nach mehr, außer ihm? Doch konnte er wirklich so weit gehen? Seine Eltern würden ihn als töricht bezeichnen, seine Freunde als dumm. Niemand heiratete eine Prinzessin, die womöglich bald starb und keine Kinder gebären konnte.
Sein Vater erwartete einen Erben. Die Hauptfamilie des Fürsten gebar drei Mädchen und nur einen einzigen Jungen. Prinz Tavan . Auf ihm lastete die Zukunft ganz Vesils. Sein Erbe war groß und sein Vater erwartete ebenso Großes von ihm. Tavan ließ die Stimme des Philosophen widersprechen. Was war schon Größe, wenn man der Frau, die man liebt, nicht einmal den letzten Wunsch erfüllen konnte? Tavan wollte lieber klein sein als ...
Noch wagte es Tavan nicht, seinen Gedanken zu Ende zu denken, doch in ihm reifte ein Entschluss und mit jeder Sekunde, in der er allein in seiner Kammer auf und ab ging und sich nach Len sehnte, wurde er stärker. Schließlich fasste er sich ein Herz. Ja, es war sein Herz, das ihn führte. Sicher war es nicht sein Verstand und auch nicht vorausschauend. Doch Tavan wollte lieber klein sein, als Elana ihren letzten Wunsch zu verweigern. Seiner Len.

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Diener des Himmels
RomanceTavan ist auf der Suche nach mehr, bis er ihr das erste Mal in die Augen sieht - einer jungen Sklavin mit ungebrochenen Augen. Von da an, verändert sich alles. »Verlangt Ihr nicht nach mir?« Sie kam noch näher. Ihr Atem streifte seine Wangen. Ihre...