Kapitel 9

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Doch diese Zeit, die so viel Schönes brachte, ließ sie auch schwächer werden. Immer öfters brach sie zusammen. Sie hustete Blut und wurde immer dünner. Schon bald war sie so schwach, dass sie kaum alleine auf die Toilette konnte. Manchmal sprach sie in ihren Fieberträumen davon, wie Tavan die Welt verändern würde. Wie er aus Allem mehr machen konnte. Tavan saß Nachts wach und lauschte ihren verschwommenen Worten. Er nährte sich daran und nährte sie mit seiner Liebe. Voller Fürsorge pflegte er sie. Wusch ihren Körper, kämmte ihr Haar, flechte es sogar, so gut er konnte. Auf den Kirchturm konnten sie nicht mehr, doch Tavan erzählte ihr von den hellen Tagen und dem Licht, unter dem die Kinder spielten, denen er Mittags zu Essen gab. Er berichtete von seinen Kämpfen, die er mit einer kleinen Verbrecherbande austrug, wie er sie jedes Mal in die Flucht schlug und einige wiederkamen und um Vergebung und ein neues Leben baten. Len musste bei diesen Worten immer schmunzeln. Sie lächelte und sagte: »Tavan, mein Held. Du veränderst die Welt, machst mehr aus ihr. Du schenkst Güte und Chancen.« Dann küsste sie ihn und manchmal streichelte sie ihn, bis er neben ihr einschlief. In dieser Zeit betete Tavan das erste Mal. Er flehte zu Gott, er möge ihnen noch mehr Zeit schenken. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass der Himmel ihm diesen Wunsch nicht gewähren würde. Manchmal war Tavan wütend, manchmal wollte er einfach alles hassen. Doch das konnte er nicht. Nicht mehr. Nicht, nach dem Len ihm mehr gezeigt hatte. Nicht, nach dem er Lieben gelernt hatte. Er war ein neuer Mensch und dafür würde er ihr immer dankbar sein. Und ganz bestimmt würde er sie immer lieben.


Eines Nachts weckte Len ihn. Sie schaute ihn ganz ruhig an und sagte mit leiser, fester Stimme: »Es ist so weit, Tavan. Ein letztes Lied.«
»Nein«, flehte Tavan und berührte ihre glühenden Wangen. »Noch nicht ... «
Er schluckte seine Tränen hinab, legte sich die Laute um die Schulter und nahm sie auf die Arme. Er trug sie langsam durch das steinerne Gemäuer, an dessen Wänden unzählige Fackeln leuchteten. Hier gab es keine Bilder von reichen, adligen Ahnen. Niemand beobachtete sie, außer der Himmel selbst, unter dem sie frei waren. Er brachte sie an den Strand. Es war ein klarer Himmel im späten Sommer. Der Mond stand als Sichel am Horizont und spendete sein tröstendes Licht.
Er setzte sie im Sand ab, umschlang ihren Oberkörper, drückte sie an sich. Einige Minuten saßen sie so da, bis Len die Laute an sich nahm und zu spielen begann. Ihr letztes Lied. Wunderschön und unendlich traurig. Tausende Sterne regneten vom Himmel, verschmolzen mit dem Meer und das Meer verschmolz mit ihnen. Ein Spiel des Himmels, klar und hell wie der Chor der Engel. Sie war ein Engel, sie musste einer sein und nun kehrte sie nach Hause zurück, wie Tavan hier sein Zuhause gefunden hatte. »Geh nicht«, flüsterte Tavan. Len seufzte. Ihr Spiel war zu Ende. Sie legte die Laute beiseite. Ihre Hände zitterten. »Es ist Zeit ... « Sie lehnte sich in Tavans Armen zurück. Er wiegte sie, hielt sie fest, hielt sie warm und sicher. Sie schaute ihn mit erblassenden Augen an. Sie war so schön, so wundervoll, überirdisch und doch war ihr Körper vergänglich. Sie war dabei zu gehen. Tavan drückte sie an sich, umklammerte sie, als könnte er sie damit für immer an diese Erde binden. Heiße Tränen rollten über seine Wangen. Sein Herz wollte in tausend Teile zerbrechen. Doch es zerbrach nicht, es fühlte sich nur unentwegt so an. »Bitte verlass mich nicht.«
»Ich liebe dich, Tavan«, flüsterte sie.
»Len, bitte«, schluchzte er. Seine Schultern zittern, seine Lippen bebten. Die Welt zerfiel, langsam, qualvoll langsam. »Verändere die Welt für mich, ja? Mach sie zu einem besseren Ort.« Sie lächelte zaghaft, versuchte ihren Arm zu heben, ließ ihre Hand auf seiner Brust ruhen und schloss die Augen. »So schön ... «
»Ich liebe dich, Len. Geh nicht fort ... « Tavans Stimme war nicht mehr als ein brechendes Flüstern. Sie antwortete nicht, doch noch atmete sie. Das Leben hielt sie an einem seidenen, hauchdünnen Faden fest. »Ich liebe dich so sehr«, schluchzte er. »Vielleicht ist meine Liebe stark genug, um dich zu heilen. Vielleicht kann ich dich ... dich retten. Ich gebe dir alles Len ... alles was ich bin ... du bist alles, alles was ich bin ...« Sein ganzer Körper bebte. Er wiegte Len vor und zurück. Sie atmete, noch atmete sie und Tavan weinte und flehte, flehte zum Himmel, bis keine Tränen mehr kamen. Dann wurde er still. Ganz still. Es gab nichts, was er der Welt entgegen schreien konnte, bis auf die Stille und ihre letzten Atemzüge.

Diener des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt