Kapitel 8

149 24 1
                                    


Sie ritten in Richtung Süden weiter, durch den Wald, über die Berge. Elana gab die Richtung an. Tavan war immer wieder erstaunt, wie präzise ihre Wegangaben waren, als wäre sie diesen Weg schon hunderte Male gegangen. Elana hatte genug Proviant für zwei Wochen eingepackt. Sie hatte wirklich an alles gedacht. Dieses Mädchen war erstaunlich, unfassbar. Am achten Tag erreichten sie das Meer und am zehnten das Gemäuer eines Klosters. Die Diener des Himmels begrüßten sie wie alte Freunde. Sie waren willkommen an diesem Ort. Sie hatten auf Tavan und Elana gewartet.
Die Mönche nannten sie Len und so nannte auch Tavan seine Geliebte. In den nächsten Wochen erfuhr Tavan mehr. So viel mehr, dass es keiner in Worte fassen kann. Der Gesang des Chores am Morgen, das gemeinsame Beten, die Arbeit im Garten, das Fischen am Meer, das alles fühlte sich nach so viel mehr an, als ein Fürst auf einer Burg zu sein und zu regieren. Tavan ging mit den Mönchen in die umliegende Dörfer und versorgte Arme und Kranke. Es gab einen Trainingsraum, in dem er täglich trainierte. Die Diener des Himmels waren mehr als zärtliche Mönche. Sie waren Behüter und sie beschützen, wer immer um Hilfe bat und diese brauchte. Es war eine wunderbare Zeit und so viel mehr, dass die Sonne um tausend mal heller zu scheinen und der Regen mit tausend mal mehr Hoffnung zu fallen schien. Hoffnung, die Tavan und Len brauchten, den ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Sich an den Händen haltend, zogen sie durch die sandfarbenen Straßen von Ean – Taivas. Es gab dort einen Kirchturm, dessen Kuppel vollständig aus Buntglas bestand. An den Abenden half Tavan Len die steilen Steinstufen nach oben und setzen sich auf die Plattform, die um die Kuppel herum führte. Wie sie so dasaßen und in die rote Sonne schauten, die am Horizont versank, legte sich Frieden über Tavans Herz. Sein hitziges Gemüt wurde sanft und schwang mit dem Flügelschlag vorbeifliegender Möwen.
»Tavan«, murmelte Len einmal und kuschelte sich an ihn. »Hier beginnt alles ... « Sie schaute auf, lächelte ihn an und warf ihr braunes Haar im Wind nach hinten. Ihre Lippen zitterten leicht und Tavan sah es in ihren Augen. Er sah wie der Satz zu Ende gehen würde, ohne das sie ihn aussprechen musste. Und hier wird alles enden. Für sie. Für Len. Sie wollten diesen Gedanken nicht aussprechen, noch war er viel zu fern, beinahe unsichtbar, nur ein bedrohliches Flimmern im orangerot der Sonne. Tavan wollte diese Momente gefangen nehmen und für immer aufheben.
»Irgendwann würden sie verblassen. Du würdest dem Moment die Schönheit nehmen, wenn du ihn unsterblich machst.« Len wusste, was er dachte und was er fühlte. Sie war wie ein Spiegel und spiegelte ihn selbst und die Welt in tausende, zauberhafte Kristalle wieder, die trotz ihrer Schönheit klar waren wie die Wahrheit. Mit jedem Atemzug zersplitterten diese Kristalle ein wenig mehr. Was würde am Ende bleiben? Die Wahrheit. Am Ende steht immer die Wahrheit.

Vor der Kirche war ein breiter Hof, ausgelegt mit Kies, umgeben von grüner Wiese und Kirschbäumen. Am Vormittag, wenn die Sonne hinter die Kuppel trat, leuchtete das Buntglas in allen erdenklichen Farben auf und warf ihr Licht auf den Kies. Ein wundersames Bild entstand, welches man nur von oben betrachten konnte. Ein kniender Engel, dessen Flügel in allen Regenbogenfarben erstrahlten. Er hielt sich auf sein Schwert gestützt und hatte den Kopf in den Nacken geworfen. Unter dem Bild, im Kies, war eine silberne Tafel in den Boden eingelassen, auf der mit geschwungener, schwarzer Gravur, ›Diener des Himmels‹, geschrieben stand.
Tavan hatte sich noch immer nicht vor dem Himmel verneigt, doch als die Tage allmählich kurzer wurden und die Schatten länger, kniete er, genau an diesem Ort, im Licht des Engels vor Len nieder, legte den Kopf in den Nacken und sagte leise: »Unter dem freien Himmel sind wir gekommen und unter dem freien Himmel, will ich Len ehelichen.« Er hörte Len aufatmen, doch noch sah er sie nicht an. Am Himmel zog eine Wolke vorüber, die die Weiten nicht mit sich nahm, sondern unsichtbar auf ihn hinunter rieseln ließ. Es war wie ein Zeichen. Magie in ihrer reinsten Form. Tavan musste lächeln. Er war nicht mehr der, der er gewesen war. Er war nicht mehr Prinz Tavan Elean von Vesil, er war mehr. Len kniete sich zu ihm, berührte sein Kinn und neigte seinen Kopf. Tavan sah ihr direkt in die Augen. Braun, mit einem Grün, das die Lebendigkeit der Natur widerspiegelte. Wunderschön und vergänglich ... wiederkehrend. »Möchtest du meine Frau werden, Len? Unter dem freien Himmel?« Er spürte wie sein Herz flatterte. Es flatterte wie die Flügel des Engels, würde er sich in die Lüfte erheben. Len küsste ihn. Sie küsste ihn mit all ihrer Wärme und Leidenschaft. Es war nicht einfach nur ein »ja«. Sie brauchte keine Worte an ihn zu richten. Ihr ganzes Selbst sprach für sich und übertrug sich auf ihn. Er wusste ganz genau, was sie dachte: Bis an das Ende meiner Tage. Sie löste sich von seinen Lippen und schaute ihn ruhig an. Dann sagte sie doch etwas: »Bis an das Ende meiner Tage und darüber hinaus, wenn du es wünschst, auf ewig in deinem Herzen. Liebe. Eine der wenigen Ausnahmen. Sie verblasst nicht, wenn man sie ewig festhält. Sie ist und bleibt ein ständiger Begleiter.« Tavan zog sie an sich und war glücklich. Eine leichte Traurigkeit lag in der Luft, aber in diesen Moment war er glücklich.


Sie heirateten. Nicht etwa in der Kirche, oder auf dem Hof. Nein. Tavan wollte am Strand heiraten und so war auch Lens Wunsch. So nahe wie am Meer, konnte man der Freiheit nicht kommen. Eine unüberwindbar scheinende Grenze, doch sie war auch ohne Regeln. Das Meer urteilte nicht, ebenso wie der Himmel. Und so standen sie, bis zu den Waden im Wasser, zwischen zwei Mächten unbeschriebener Schönheit. Len trug ein weißes weites Kleid, das im Wind eigene, seidige Wellen schlug. Tavan selbst war schlicht in schwarz und blau gekleidet. Er hielt sie an der Hand und sog den Geruch von Salz und Sand auf. Weiter hinten am Strand spielten die Mönche Laute, Flöte und Harfe, deren Melodie in dem Rauschen der Wellen verschwand. Um Tavan und Len herum war es beinahe still. Die Wellen umspielten sie mit leiser, sanfter Musik und die Vögel trugen sie in die weite Welt hinaus.
Sie brauchten keinen Priester. Ihr Priester war der Himmel und ihr Zeuge das Meer. Und so stand Tavan und horchte in sich hinein. Er fand Lens Hand und er fand mehr. Irgendwann musste er Len abstützen, sie war zu schwach, lange zu stehen. Endlich neigte sich die Sonne dem Horizont hin. Der Abend brach an. Die Musik der Mönche verstummte. Die Wellen flüsterten ihr eigenes Lied. Sie waren allein. Vorsichtig zog er Len das Kleid aus, bis sie nackt vor ihm stand. Er fuhr mit den Fingerkuppen zwischen ihren Brüsten hindurch und berührte ihren Bauchnabel. Widerstandslos ließ er zu, dass auch sie ihn entkleidete. Nackt berührten sie einander, tasteten sich ab, ergründete alle Tiefen und Unebenheiten des anderen, bis sich ihre Körper nicht mehr fremd waren, sondern eine Einhalt bildeten. Tavan legte einen Arm um sie und ließ sich mit ihr in die Wellen fallen. Für einen Moment glaubte er wirklich, er würde in den Himmel fallen. Nur das der Himmel nicht so kühl und nass war. Sie tauchten unter. Mit verschwommen Blick tastete er ihr Gesicht ab. Er spürte ihre Hände an seinen Wangen und schloss die Augen. Unter Wasser war es noch viel stiller und sie ganz mit sich alleine. Verbunden auf eine harmonische Art, die man nur an solch einem Ort wie Ean – Taivas finden konnte. Jedenfalls glaubte Tavan das. In der Stille erhob sich die Stimme des Philosophen in ihm. Ich wurde für Euch geboren und Ihr für mich, das waren Lens Worte gewesen. In Wahrheit, so glaube es Tavan mittlerweile, war sie für ihn gekommen und nun da er hier war, unter den Dienern des Himmels, an einem Ort, der mehr erschuf, war es Zeit für sie zu gehen. Sie tauchten auf. Keuchend holte Tavan Luft und schaute zu Len. Ihr klebten die nassen Haare im Gesicht und er strich sie nach hinten. Hand in Hand wateten sie durch das Wasser auf den Strand zu. Tavan schwieg und auch Len hüllte sich in bedächtiges Schweigen und so kreisten Tavans Gedanken weiter.
Vielleicht war es ihre Aufgabe gewesen, ihn hier her zu bringen. Dieser Gedanke war friedvoll aber auch unendlich schmerzhaft und ungerecht. Unter dem Himmel waren alle frei. Unter dem Himmel waren alle gleich. Aber war der Himmel deshalb auch gerecht? Jedenfalls hatte ihnen der Himmel genug Zeit gegeben, um sich zu verbinden. Er blieb stehen. Mittlerweile hatten sie den Strand erreicht. Die Sonne war nicht mehr zu sehen und am Horizont stand nur noch ein schwach rosa Streifen, der allmählich im blaugrau der anbrechenden Nacht verschwand. Tavan beugte sich vor, küsste seine Frau und verwarf alle negativen Gefühle. Der Moment, ihre gemeinsame Zeit zählte. 

Diener des HimmelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt