5

317 28 4
                                    

Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, mich in einer großen Luftblase zu befinden. Ich starrte Sherlocks regungslosen Körper an, starrte in sein Gesicht, starrte auf all das Blut, das ihn, & inzwischen auch mich, umgab.

„Sherlock", flüsterte ich. Ich legte meine linke Hand an seine Wange & strich mit dem Daumen die Spur seiner letzten Träne weg. Meine Rechte Hand drückte noch immer seinen Schal auf die Wunde. Es dauerte nicht allzu lange, bis ich realisierte, dass ich ihn am Leben erhalten musste. Ich würde seinen Verlust nicht ein zweites Mal durchmachen. „Nein", sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Sherlock. „Nein. Du lässt mich hier nicht alleine, nicht schon wieder!" Ich nahm meine Hand von seinem Gesicht & legte sie an seinen Hals, um nach einem Puls zu fühlen. Ich konnte keinen finden. Auch, wenn ich es hätte wissen müssen, erschrak ich. „Nein. Gott, nein, wage es ja nicht!" Ich schrie ihn förmlich an. Wo auch immer diese Entschlossenheit plötzlich herkam, ich war dankbar für die Kraft, die sie mir verlieh. Denn so schaffte ich es, das einzig Richtige zu tun: Ich strich Sherlocks Mantel links & rechts von seiner Brust & begann mit der Herzmassage.

Ich versuchte, an nichts als den Rhythmus zu denken, in dem ich meine Hände auf Sherlocks Brust pressen musste, aber ich schaffte es nicht komplett. Vor meinem inneren Auge spielten sich immer wieder Bilder ab. Ganz bestimmte Bilder. Erinnerungen, die ich eigentlich nie wieder hervor holen wollte, aber jetzt konnte ich es nicht verhindern. Ich sah Sherlock vor mir, wie er auf dem Gehweg vor dem St. Barts Hospital lag, von Blut umgeben. & ich erinnerte mich an die zwei Jahre, die ich ohne ihn verbracht hatte, in der festen Überzeugung, dass er tot wäre. Ich dachte an die Momente, die ich an seinem Grab verbracht hatte - ich war nie sonderlich lange dort geblieben, ich hatte es nicht ausgehalten, aber trotzdem habe ich ihn regelmäßig besucht. Ich war es ihm schuldig gewesen.

Ich konnte einfach nicht glauben, dass sich das alles jetzt wiederholte. Nur, dass es dieses Mal noch viel schlimmer war. Denn dieses Mal täuschte Sherlock nichts vor. Dieses Mal könnte er nicht einfach wieder auftauchen. Sobald ich aufhören würde, das Herz meines besten Freundes zum Schlagen zu bringen, wäre es vorbei.

„Nein, verdammt", sagte ich & zwang mich, die Bilder wieder zu verdrängen. „Das wird nicht passieren. Hörst du Sherlock, ich lasse das verdammt nochmal nicht zu."

Also machte ich weiter. & irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, hörte ich endlich dumpfe, schnelle Schritte vom Flur auf uns zukommen.

„Hier rein", hörte ich die Stimme meiner Freundin sagen.

& dann betrat Mary den Raum, hinter ihr 4 Sanitäter mit einer Trage & großen Rucksäcken.

Die Sanitäter kamen sofort zu mir & Sherlock.

„Mein Name ist John Watson", sagte ich hastig, während ich immer noch unablässig mit der Herzmassage fortfuhr. „Sher..er wurde angeschossen. Er hat vor einigen Minuten das Bewusstsein verloren, ich weiß nicht genau, wie lange es her ist, ich habe nicht auf die Uhr geguckt. Ich bin Arzt, ich habe alles getan, was ich konnte, aber er hat mit Sicherheit starke innere Blutungen & muss sofort reanimiert werden."

„Wir werden tun, was in unserer Macht steht", antwortete einer der Sanitäter & legte eine Hand auf meine Schulter, um mir zu bedeuten, dass sie jetzt übernehmen würden. Es fiel mir unheimlich schwer, von Sherlock abzulassen, aber ich wusste, dass ich hier nichts mehr für ihn tun konnte. Ich konnte nur noch hoffen & beten, auch wenn ich wusste, wie schlecht es um ihn stand.

Also stand ich auf & stolperte zwei Schritte zurück, doch den Blick konnte ich nicht von Sherlock abwenden.

Die Sanitäter hoben Sherlock auf die Trage & trugen ihn vorsichtig so schnell es ging nach draußen.

Ich folgte ihnen & Mary, die, als sie gesehen hatte, was sich abspielte, die Hände vor den Mund geschlagen & neben der Tür des Klassenzimmers gewartet hatte, kam neben mich & nahm meine Hand.

Unten angekommen wurde Sherlock in den Krankenwagen gehoben. Zwei der Sanitäter fingen sofort an, verschiedene Schläuche an ihm anzubringen & taten alles, um ihn wiederzubeleben. Einer der anderen beiden setzte sich ans Steuer & der vierte wollte gerade die Türen hinten am Wagen schließen, als ich ihn ansprach.

„Kann ich mitkommen?", fragte ich. Der Sanitäter sah mich etwas unsicher an. Immerhin war ich kein Familienmitglied. „Ich komme mit.", sagte ich dann bestimmt. Auf keinen Fall würde ich ihn jetzt alleine lassen. Der Mann widersprach nicht. Wahrscheinlich war ihm klar, dass es zwecklos war, mich aufhalten zu wollen. Also trat er einen Schritt beiseite, um mich einsteigen zu lassen.

Bevor ich in den Krankenwagen stieg, wandte ich mich kurz an Mary:

„Ich schreibe dir eine SMS, wenn ich weiß, in welches Krankenhaus wir fahren."

„Okay.", ich konnte hören, dass sie Angst hatte. „Wir sehen uns dann dort." Sie umarmte mich kurz aber fest & fügte hinzu: „es wird alles wieder gut."

Dann ließ sie von mir ab & ich stieg ein.

Ich setzte mich auf den kleinen Sitz direkt an der Tür & beobachtete die beiden Sanitäter. Einer von ihnen hatte gerade einen Defibrillator hervorgeholt & legte die beiden Teile jetzt auf Sherlocks Brust.

„Fertig?", fragte er.

„Ja.", sagte der andere.

Nach dem ersten Versuch passierte nichts, doch beim zweiten Mal zeigte Sherlocks Herz eine Reaktion. Meines fing sofort an, wie wild zu rasen. Ich stand auf & starrte Sherlock an. Ich betete nie, aber in diesem Moment konnte ich nicht anders. „Bitte lass ihn leben.", flüsterte ich. & tatsächlich schien es den Sanitätern zu gelingen, Sherlock einigermaßen zu stabilisieren. Ich war so erleichtert. Natürlich war ich immer noch erfüllt von Angst, denn das bedeutete noch lange nicht, dass Sherlock diesen Tag überleben würde, aber es war schon mal etwas. Es gab mir neue Hoffnung. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz & atmete tief durch. Ich zwang mich, meinen Blick von Sherlock abzuwenden & starrte stattdessen an die Wand. Kurz schloss ich meine Augen, & sofort fingen meine Gedanken an zu rasen.

_________________________________________________________________________

A.N.: Okay,hier ist der nächste,endlich mal etwas längere Teil. Ich möchte gerne betonen,dass ich kein Arzt bin & deshalb nicht sonderlich viel Ahnung von dem ganzen Zeug habe,das John & die Sanitäter da machen. Ich hoffe aber,dass alles trotzdem einigermaßen richtig & verstänlich ist. Danke nochmal an lostinmymindpalace für die Hilfe. <3

To The Best Of Times Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt