Prolog II.

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Dienstag, 25. September 1998

Die Glocken der Kirche spielten ihr Trauerlied, während ich mit der Masse, schweren Schrittes, ihrem Klang folgte. Mein schwarzer Schleier flog mir ins Gesicht, da der Wind so stark blies. Noch ein paar Schritte. Ich stellte mir vor, dass der Wind Gemma wäre und schloss dabei kurz die Augen. Ihre schwachen Arme, die mich freudig zur Begrüßung umarmten. Ihre strahlenden Augen, ihr breiter Mund, wenn sie lächelte. Eine Woche war sie nun schon tot. Ich war nicht zur Uni gegangen in dieser Zeit, denn ich war damit beschäftigt ihre Beerdigung zu planen. Es waren qualvoll lange Tage, die einfach nicht enden wollten. Alle Fragen trafen auf mich: Was soll mit ihren zurückgebliebenen Gewändern passieren? Wo soll sie beerdigt werden? Warum hat sie das getan?
Fragen, auf die ich meist selbst keine Antwort hatte.
Meine Beine blieben wie allein vor der Kirche stehen und ich starrte den kleinen Berg hinauf zum Friedhof. Ich spürte die Tränen, sie hingen in meinen Augen, waren bereit zu fließen, doch ich ließ sie nicht. Gemma, ich hoffe dir geht es gut, wo auch immer du bist.
Ich schloss meine Augen, atmete tief durch und roch die kühle Morgenluft. Es war der 25. September 1998 und ich lauschte den Blättern, die der Wind sanft hinforttrug. Er ließ sie tanzen, Gemma ließ sie tanzen. Es war ein schöner Herbstmorgen, die Sonne gab ihre ersten warmen Sonnenstrahlen ab und die Luft roch nach Blättern und Kastanien. Langsam öffnete ich meine Augen wieder und blickte auf den Eingang der Kirche. Hatte ich denn alles beachtet? Waren die Einladungskarten zur Beerdigung an alle gegangen? Ich hatte auch eine an Harry gesendet. Ich hoffte, er würde kommen. Ich durfte ihn nicht ansprechen, denn Gemma wollte nicht, dass er wusste, dass ich sie kannte. Ich ließ meiner Lunge einen zittrigen Atemzug entweichen und machte einen winzigen Schritt in die Kirche hinein. Der Geruch von Weihrauch und altem Holz schlug mir entgegen und ich spürte wie mir erneut die Tränen in die Augen schossen. Meine Knie wurden weich und ich schaute in den riesigen Saal. Zwischen den Sitzbänken, in der Mitte, stand der hölzerne Sarg. Er war aus Eichenholz, denn das war stark, genauso wie Gemma es war. Meine Beine gingen den Weg zum Sarg wie automatisch und ich starrte auf das Foto, das Gemma an ihrem Geburtstag vor einem Jahr zeigte.

„Nein, Care! Du hast es wirklich gemacht! Dankeschön!" Gemma umarmte mich stürmisch und küsste meine Wange. Ich hatte ihren ganzen Geburtstag geplant, da sie in den letzten Tagen psychisch nicht dazu in der Lage war. „Natürlich hab ich es gemacht, du hast schließlich Geburtstag. Der 22. sollte gefeiert werden." Ich flüsterte in ihr Ohr, während ich meine langen Arme um ihren Hals schlung. Um uns herum standen schon einige Freunde von uns, die mir bei der Organisation der Party geholfen hatten. Sie beobachteten uns, doch ich spürte ihre Blicke kaum. Ich hoffte nur, dass alles glattlaufen würde. „Oh danke Care, ich.." Sie musste ihren Satz unterbrechen, da sie angefangen hatte zu weinen. Dann richtete Gem sich etwas auf und legte ihre kleinen Hände sanft auf meine Schultern. Der Griff verstärkte sich kaum merklich und sie sah mir ehrlich in die Augen. „Ich liebe dich, Caroline."

Das Bild starrte mich an. Gem starrte mich an und ich konnte meine Tränen nicht mehr stoppen. „Gemma, es tut mir so leid.." Ich flüsterte zu ihrem Bild und versuchte meinen Tränenfluss unter Kontrolle zu bringen. Vergeblich. Ich konnte sie nicht stoppen, sie wollten nicht auf mich hören.
Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen.
Meine Gedanken machten mir schon die ganze Woche Schuldgefühle. Ich konnte nicht aufhören daran zu denken, was passiert wäre, wenn ich schneller gewesen wär. Hätte ich es verhindern können? Hätte ich es verhindern sollen? Sie wollte doch sterben. Soll man den Willen eines Menschen unterbinden? War es aber wirklich ihr Wille oder war es nur die Depression, die aus ihr sprach?

Ich schloss für ein paar Sekunden meine Augen. Ich musste klare Gedanken schöpfen. Gem war tot. Ich würde sie nie wieder sehen, nicht in diesem Leben. Langsam öffneten sich meine Augen wieder und ich beruhigte meinen Atem etwas. Die Kirchenglocken hatten aufgehört zu spielen, es war totenstill im Saal. Ab und zu erklangen leise Schluchzer aus irgendeiner Ecke. Doch meistens waren es meine. Ich sah noch ein letztes Mal in Gemmas Augen auf dem Bild und versuchte, mir ihr Gesicht einzuprägen. Ich durfte nicht vergessen wie sie aussah. Niemals durfte das passieren. Ich machte ein schnelles Kreuzzeichen, ging leicht in die Knie und verneigte mich ein wenig vor ihr. „Machs gut, Gem. Ich werde dich nie vergessen." Meine Stimme war fast nicht hörbar, obwohl es so leise in dem großen Raum war. Alles wird gut, Baby. Ich sendete Gem aufmunternde Gedanken, denn vielleicht hatte sie genauso viel Angst wie ich. Vielleicht war das Leben nach dem Tod gar nicht schön und erleichternd. Vielleicht ging es weiter, wie hier auf der Erde, vielleicht aber sogar noch viel schlimmer.

Zu spät (Harry Fanfic) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt