Kapitel 1

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Mittwoch, 25. September, 1999

Es war der erste Todestag von Gemma und ich wollte den Tag genauso wie all die anderen zuvor verbringen. Mein Leben war ein einziger Scherbenhaufen, seit Gemma tot war. Ich versuchte ständig und immer wieder alle Scherben aufzuheben, doch hatte ich das geschafft, fielen sie mir aus der Hand und ich schnitt mich daran. Ich wollte nicht enden wie Gemma. Ich mochte mich nicht selbst umbringen, denn ich wollte wieder der lebensfrohe Mensch werden, der ich immer schon war.

Ab und zu kamen meine Eltern vorbei, um nachzusehen wie es mir ging. Ob ich aß, genug Schlaf bekam oder auch hinausging. Sie suchten mir einen Therapeuten auf, da ich meine Nahrung und Hygiene vernachlässigte. Ich hatte schlicht und einfach keine Lust und keinen Appetit mehr, seit sie weg war. Ich konnte das alles nicht mehr, aber ich wollte es doch so sehr. Es war als wäre mit Gemmas Tod auch meine Motivation gestorben.

Ich lag jeden Tag bis Nachmittags in meinem Bett, stand dann auf um eine Kleinigkeit zu essen, aufs Klo zu gehen und um mich dann auf die Couch zu schmeißen und zu fernsehen. Duschen ging ich - wenn ich eine gute Woche hatte - vielleicht zwei Mal in der Woche. Den Unterricht hatte ich seit Gems Tod kein einziges Mal mehr besucht. Ich war ganz einfach nicht mehr in der Lage aus dem Haus zu gehen. Meine Nachbarn waren so nett und erledigten meine Einkäufe für mich. Jeder Tag war trostlos und grau in grau. Es tat mir weh, zu wissen, wer ich einmal war und was aus mir geworden war.

Der einzige Gedanke, der mich nicht gehen ließ, war, dass ich eine Aufgabe von Gemma bekommen hatte. Ich musste auf ihren Bruder aufpassen. Ich durfte noch nicht gehen. Ich musste hier bleiben, auf dieser grausamen Welt, die für mich zum Gefängnis geworden war. Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen. Ich wartete einfach die ganze Zeit darauf, dass ich es irgendwann schaffte mich aufzurappeln und meinen Arsch aus der Tür zu bewegen. Meine Therapeutin und meine Eltern versuchten es mittlerweile seit einem halben Jahr vergeblich. Ich war seit einem Jahr nicht mehr an der frischen Luft. Es fehlte mir, die langen Spaziergänge, der Weg in die Schule, das Sonnenbaden im Sommer. Das alles fehlte mir so. Meine Gedanken waren bei Gemma gefangen. Ich war mir so sicher, dass sie nicht wollte, dass ich mein Leben so verbrachte. Sie wollte, dass ich ausging und Leute kennenlernte. Sie wollte, dass ich ins Internat zu ihrem Bruder fuhr und ihn aufmunterte. Geht es ihm auch so schlecht wie mir? Könnten wir uns gegenseitig helfen? Kann mir überhaupt irgendjemand helfen? Ich fühlte mich wie ein hoffnungsloser Fall.

Meine größte Angst, war es, dass ich vergessen werden würde. Dass mich meine Familie genauso wie meine Freunde verließen, weil sie mit meiner Art nicht mehr zurechtkämen. Ich wollte sie doch ändern, allein schon, um meine alten Freunde wieder zu bekommen. Sie hatten anfangs noch versucht mich aufzumuntern und aus dem Haus zu bekommen, doch ich wollte nicht. Ich wollte mich unter meine Decke kuscheln und Eis essen. Das hatten sie aber nicht verstanden und fragten mich immer seltener ob ich mit ihnen rausgehen wollen würde. Bis sie schließlich ganz damit aufhörten.

Jetzt war ich hauptsächlich ganz allein, ich hatte nur noch meine Eltern, die mich ein Mal in der Woche besuchten. Aber ich merkte an ihren Gesichtern, besonders an Papas, dass sie nicht mehr herkommen wollten, da es sie auch hinunterzog ihre einzige Tochter, auf die sie mal so stolz waren, so untergehen zu sehen. Sie wollten und konnten nicht mehr. Mama hatte erst zu mir gesagt, dass sie es so traurig mache, mich so zu sehen und dass ich wieder versuchen sollte, der kleine fröhliche Zwerg zu werden, der ich einmal war und den sie so sehr geliebt hat. Paps hatte mir erzählt, dass jeder einmal geliebte Personen verlieren würde und dass das tragisch wäre. Wir müssten jedoch alle weitermachen, denn wir haben eine Aufgabe - eine Bestimmung.

Meine Bestimmung lag darin, Harry aufzusuchen und ihm eine Stütze zu sein. Vielleicht war es seine Aufgabe, mir eine zu sein. Ich kannte ihn nicht, aber ich hatte lange Zeit mir ein Bild von ihm zu machen. An manchen Tagen saß ich in meinem Zimmer und habe ihn auf Facebook oder etlichen anderen Seiten gesucht. Er sah gut aus, sehr gut sogar. Er hatte Tattoos soweit ich das erkennen konnte, auf den kleinen Fotos. Doch was mir auch aufgefallen war, war, dass er seit dem Tod seiner Schwester keine Fotos mehr hochgeladen hatte. Es schien ihm auch nicht so besonders gut zu gehen. Vielleicht war es wirklich das Beste noch heute loszulegen, mir einen Platz in diesem Internat zu suchen und mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Vielleicht war genau heute der richtige Tag um das zu schaffen. Gemma wäre stolz auf mich, da war ich mir sicher.

Zu spät (Harry Fanfic) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt