Kapitel 2

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Dienstag, 01. Oktober, 1999

Meine Sachen waren gepackt, ich war frisch geduscht und ich hatte den Wohnungsvertrag bereits gekündigt. Die letzte Woche verging wie im Fluge, ich musste so viel erledigen, dass ich keine Zeit hatte über Gemma, meine Therapeutin oder meine Eltern nachzudenken. Ich hatte nur Harry im Kopf. Er schwirrte in meinen Gedanken herum und zwang mich jeden Tag meine müden Knochen aufzuwecken.  Er hauchte mir wieder Leben ein, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte.

"Ich bin ja froh, dass es dir wieder besser geht, mein Schatz. Aber bist du dir sicher, dass du wegziehen möchtest?" Ich verdrehte meine Augen und drehte mich zu meinen Eltern um, die mit besorgten Gesichtern im Flur standen. "Ja, Mama. Ich bin mir sicher. Ich habe es Gem versprochen." Ich ging einen Schritt auf meine Mutter zu und nahm ihr zierliches Gesicht zwischen meine Hände. "Aber bist du dir sicher, dass du schon wieder Autofahren kannst?" Die tiefe, raue Stimme meines Vaters hallte im leergeräumten Flur. Mein Blick traf seinen, ich ließ die Backen meiner Mama jedoch nicht los. "Klar, Paps." Ich zwinkerte ihm keck zu und gab meiner Mutter dann einen sanften Kuss auf die Stirn. "Wenn ich mir nicht sicher wäre, würde ich es nicht tun." Ich lächelte schwach und ließ den Blick nochmals durch die leergefegte Wohnung huschen. Ich werde es hier vermissen. Meine kleine Höhle, in der ich unerreichbar war. "Nimm das alles nicht so auf die leichte Schulter." Mein Vater hob den Zeigefinger und versuchte den Strengen zu spielen, doch sein Blick verriet mir, dass er sich nur um mich sorgte. "Pass auf dich auf, Spätzchen." Ich spürte wie sich die Tränen in meinen Augenwinkeln bildeten. Mein Gesicht fing an zu kribbeln und als mein Papa die Arme für eine Umarmung ausbreitete, konnte ich sie nicht mehr zurückhalten. "Ich hab euch lieb." Weinend fiel ich in die Arme meines Vaters, der meine Mutter in die Umarmung zog, sodass wir alle drei kuschelnd im Flur standen. Alles was ich spürte, war  die zierliche Hand von meiner Mama, die meinen Rücken beruhigend auf und ab strich. Ich hatte sie so lieb und ich würde sie vermissen. In der letzten Woche hatten mir die beiden so sehr geholfen, ich war ihnen so unendlich dankbar. Mein ganzer Körper schrie, dass ich sie nie wieder verlieren wollte. "Ich werde euch besuchen. Das verspreche ich euch." Mein Kopf nickte wild und versichernd. "Versprochen." Ich schniefte ein letztes Mal, richtete mich etwas auf und löste mich vorsichtig aus der Umarmung. "Das ist ja wie bei deinem ersten Umzug in die erste Wohnung von dir." Meine Mutter wischte sich ihre Tränen weg und versuchte den Satz mit etwas Lachen nicht so ernst wirken zu lassen. Es gelang ihr nicht, doch ich lächelte trotz allem, denn ich war im Großen und Ganzen glücklich. "Ich melde mich, wenn ich im Internat angekommen bin." Langsam griff ich nach meinem Koffer, schaute nochmal im Flur auf und ab, ob ich etwas vergessen hatte und trat dann ins Stiegenhaus. Meine Hände hielten meinen Eltern die Türe auf, sodass sie auch hinausgehen konnten. Ich werde es hier vermissen. Aber wahrscheinlich wird es dort auch ganz in Ordnung sein. Mit gesenktem Blick ließ ich die Türe laut ins Schloss fallen und versuchte mühsam den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Meine Hände zitterten, denn erst jetzt wurde mir richtig bewusst, was ich hier eigentlich tat. Es war so weit. Der Moment auf den ich die ganze Woche so sehnlichst gewartet hatte, war gekommen. Doch zuerst musste ich diese beschissene Türe irgendwie zusperren.
"Warte, Spätzchen, ich helf dir." Die starke Hand meines Paps griff nach dem Schlüssel, beförderte ihn ins Loch und sperrte ab. "Danke", murmelte ich und lächelte ihn kurz an. Ich fühlte mich so schüchtern, wie ein kleines Volksschulmädchen, das sich alleine ein Eis bestellen musste. "Und vergesst nicht den Schlüssel zur Hausverwaltung zu bringen." Mein Blick war ernst und ich spielte in Gedanken nochmals ab, ob ich denn wirklich nichts vergessen hatte. "Machen wir, Schatz." Meine Mutter verdrehte die Augen. "Und jetzt bitte fahr los und hab Spaß in dem Internat. Falls du was vergessen hast, gib uns Bescheid, ja?" Sie beugte sich vor um meine Backe zu küssen und ich grinste in mich hinein. "Danke, werde ich haben." Auch für meinen Papa gab es einen schnellen Abschiedskuss, danach verschwand ich aus der Tür in die Freiheit.

Zu spät (Harry Fanfic) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt