Prolog I.

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Dienstag, 18. September 1998

„Nein, Gemma. Du schaffst das. So schlimm ist das Leben nicht. Wirf es nicht weg." Meine Stimme brach als ich meine beste Freundin über das Telefon schluchzen und wirres Zeugs stottern hörte. Sie erzählte mir nicht viel. Sie verabschiedete sich bloß. „Ich...Ich kann nicht mehr... Es tut mir leid, Care." Sie flüsterte nur noch, kaum hörbar war sie. Es hörte sich an, als würde Gemma jegliche Energie aus dem Körper gesaugt worden sein. Sie war bereit uns alle zu verlassen und ihren Frieden zu finden. Ich war jedoch noch nicht bereit sie gehen zu lassen. Sie war doch meine beste Freundin. „Gem, du darfst das nicht tun. Willst du mich ganz allein lassen? Ich brauche dich doch. Bitte..." Meine Stimme brach ab, während ich in meinem kleinen Käfer über die Straße, in Richtung Gemmas Haus, raste. „Tu mir einen Gefallen, Baby.." Ihre Stimme klang fester. Entschlossener. Meine Finger umklammerten fest das Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Ich hatte Angst, so große Angst.
Meine Kniekehlen fingen an zu schwitzen, auf den ledernen Sitzen meines VW Käfers und ich zappelte nervös auf und ab. Würde Gemma sich wirklich umbringen? Ich brauchte nicht mehr lange bis zu ihrer Wohnung. Zehn Minuten vielleicht. Doch was konnte sie in zehn Minuten alles anstellen? Ich blinzelte meine Tränen schnell weg und versuchte mit großer Mühe mich auf den Verkehr zu konzentrieren. „Fuck..", murmelte ich verzweifelt und trat etwas fester aufs Pedal. „Was für einen Gefallen?" Ich hörte mich selbst kaum, da ich so leise sprach und mir fest auf die Unterlippe biss. Sie durfte nicht gehen, nicht jetzt. Ich brauchte sie so dringend. Ich wollte noch so viel mit ihr erleben. Gemma. Meine Gemma.
„Hör zu, Care. Ich... Ich habe einen Bruder, Harry. Er ist 21, wie du. Ich bitte dich, Care, bitte pass auf ihn auf. Wir hatten seit meiner Depression keinen wirklichen Kontakt mehr. Ich wollte ihn.." Sie brach ab, um nach Luft zu schnappen und setzte dann wieder zum Weiterreden an.
Harry. Sie hatte einen Bruder? Ich kannte Gemma seit ungefähr zwei Jahren. Doch sie hatte mir noch nie was von ihm erzählt. „Er wohnt in einem Internat in Redditch. Fahr zu ihm und bitte... Sag.. Sag ihm nicht, dass du mich kanntest. Muntere ihn auf, nachdem er die Nachricht von meinem Tod überbracht bekommen hat. Er hat niemanden mehr. Du weißt, dass unsere Eltern tot sind. Bitte, Care. Tu mir diesen letzten Gefallen." Gemma beendete ihre Rede und ich schüttelte heftig den Kopf. Nein, nein, nein, NEIN! In mir sträubte sich alles. Ich musste mich bemühen nicht in mein Auto zu kotzen, vor Übelkeit. "Gemma, ich..."

Tüt, tüt, tüt, tüt...

Sie hatte aufgelegt. Oh Gott.
„Nein, nein, nein... Gem." Ich weinte und schluchzte und schlug stark gegen das Lenkrad, um die Wut rauszulassen. Gemma und ich kannten uns aus der Uni. Wir besuchten beide die gleichen Kurse. Philosophie, Psychologie, Kunst und Wirtschaft. Sie war mein Fels in der Brandung und ich ihrer, seit zwei Jahren. Das durfte sie nicht einfach so wegschmeißen. Gemma bekam Depressionen als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Das dürfte vor etwa zweieinhalb Jahren passiert sein. Sie fiel in ein tiefes Loch und kam lange nicht mehr hinaus. Weder aus ihrer Wohnung, noch aus ihrem emotionalen Tief. Sie hing in allen Fächern nach, vernachlässigte ihre Hygiene. Sie schiss auf alles, was ihr früher so wichtig erschien. Nach einem halben Jahr entschloss sie sich wieder einmal vor die Türe zu gehen und besuchte den Unterricht wieder regelmäßiger. Ich weiß noch genau: ich saß in der ersten Reihe im Hörsaal und der einzig leere Platz war neben mir. Zehn Minuten zu spät öffnete sich die Tür und Gemma trat in den Saal. Der Professor schenkte ihr einen überrascht mitleidigen Blick. Gem ignorierte ihn, trottete auf den Platz neben mir zu und ließ sich mit einem traurigen Seufzer auf den Sitz plumpsen. Ich lächelte sie leicht von der Seite an und konzentrierte mich dann wieder auf den Vortrag des Professors, der über den Expressionismus handelte. Mein Lieblingsthema. Wir saßen seitdem jedes Mal nebeneinander und lächelten uns anfangs einfach nur zur Begrüßung zu. Ich merkte, dass Gem keine Lust auf Konversationen mit mir hatte und ich respektierte es. Ich war ohnehin an der Uni um zu lernen und nicht, um die ganze Zeit zu tratschen. Nach einer langen Zeit fing Gemma an mit mir Smalltalk zu führen, irgendwann trafen wir uns zum Mittagessen zwischen den Modulen. Später trafen wir uns sogar außerhalb der Schule. Sie war anders, als ich sie eingeschätzt hatte. Gar nicht so kalt und abweisend. Sie war nett und freundlich, immer aufmerksam und zielstrebig. Wenn ich sie sah.
Zuhause -alleine- sah ihre Welt ganz anders aus. Düster, traurig, beengt und verzweifelt. Die Klingen bereit, um nach jedem einzelnen, qualvollen Tag verwendet zu werden. Jeder Tag fühlte sich für sie an wie winzig kleine Nadelstiche in ihr Herz, die es perforierten. Sie vermisste ihre Eltern sehr, weinte jeden Tag um sie und betete für sie. Irgendwann als sie gar keine Hoffnung mehr hatte - ungefähr nach einem Jahr, nachdem ich sie kannte - fing sie an über Selbstmord zu reden, um ihre Eltern im neuen Leben wiederzufinden. Ich konnte sie erfolgreich davon abhalten, bis jetzt.

2 Minuten noch.

„Ich komme, Gem." Ich trat das Pedal durch und hielt vor ihrer Wohnung. Scheiße, Gemma, nein. Es darf nicht zu spät sein. Ich darf nicht zu spät sein.
Ich läutete sturm. „Öffne diese beschissene Tür, Gemma!" Ich schrie und murmelte vor mich hin, blickte nervös die Straße auf und ab. „Gemma..." Ich ließ mich verletzt und enttäuscht von mir selbst, die Wand hinabgleiten. „Meine Gemma..." Mein Weinen und Schluchzen war das einzige was ich in der Umgebung hörte, bis ich irgendwann das Geräusch von Sirenen vernahm. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich die Rettung gerufen hatte.

Ich war zu spät.

Zu spät (Harry Fanfic) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt