eins

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Ich laufe durch die endlos lang wirkenden Flure der Schule, die gar nicht so endlos sind. Um mich herum Menschen die lachen und inmitten dieser Menschen bin ich.

Heute habe ich definitiv einen meiner schlechten Tage. Ich habe auch gute, keine Frage, aber im Moment schaffe ich es nicht mal mehr zu lächeln, wenn mich jemand fragt, wie es mir geht.

Nicht, dass ich oft gefragt werde, wie es mir geht, außer vielleicht von meinen Eltern. Meine Eltern lieben mich, ich weiß das zu schätzen, aber zurück lieben kann ich sie nicht. Nicht so, wie Kinder ihre Eltern lieben sollten.
Falls man überhaupt klar sagen kann wie ich sie lieben sollte...

„Hey Quentin, hast du die Hausaufgaben in Mathe?" Ich blicke hoch und sehe in das picklige Gesicht von Noah. Er ist sowas wie ein Freund von mir...? Noah ist nicht besonders hübsch und auch nicht extrem intelligent. Auch ist er nicht weniger unbeliebt als ich und eigentlich passen wir hervorragend zusammen.

Doch Noah hat nicht das, was ich mir bei einem Freund wünsche. Ich rede nicht von einem festen Freund, sondern von einem Kumpel. Trotz meiner mangelnden Erfahrung mit Mädchen, glaube ich zu wissen heterosexuell zu sein.
Das ist jetzt jedoch gar nicht der Punkt.

Noah ist all das, was ich in Menschen hasse. Er ist unloyal und kümmert sich darum, was andere über ihn sagen. Trotzdem sind ihm die Gefühle anderer Leute egal, so lang es ihm gut geht. Noah will keine Freunde, er will Geschäftspartner, am besten dumme. Wenn für ihn bei einer Bekanntschaft nichts rausspringt, dann ist sie unnötig. Er ist diese Art von Mensch, die für den eigenen Erfolg über Leichen gehen würde.

Und trotzdem verbringe ich meine Zeit mit ihm. Denn ich habe niemanden, mit dem ich mich sonst unterhalten soll. Irgendwie macht mich das selbst zu einem Menschen, den ich hasse.

Ich hasse mich selbst. Nicht so, dass ich mich verletzen würde. Ich glaube, ich bin auch nicht depressiv. Vielleicht doch, wer weiß.

„Ja.", antworte ich Noah tonlos, während ich meinen Spind öffne, um die Hausaufgaben herauszuholen. Er nimmt sie entgegen, klopft mir auf die Schulter und verschwindet damit Richtung Toiletten, um sie in den letzten drei Minuten der Pause noch abzuschreiben.

Wie jeden Montag betrete ich zur ersten Stunde den Raum 201, um meinem Klassenlehrer bei seinen langweiligen Ausführungen zur Definition von einem Punkt zuzuhören.

Mein Lehrer, Mr. Kingston, betritt den Raum, jedoch nicht allein. Die anderen Schüler in meiner Klasse verstummen und richten ihren Blick an die Tafel. Na ja, wahrscheinlich nicht an die Tafel, sondern auf das Mädchen, welches davor steht.

Sie hat einen blonden Bob, der jedoch in viele Richtungen absteht. Wahrscheinlich hat sie heute morgen keine Zeit gehabt, ihre Haare zu kämen. Außerdem trägt sie eine weite Hose mit einem Grasfleck am Knie, ausgelatschten Turnschuhen und einen weiten Pullover von irgendeiner Band. Sie wirkt irgendwie ziemlich... abgebrüht.

Ähnlich wie meine Mitschüler, kann ich den Blick nicht von ihr abwenden. Irgendwas an ihr zieht mich in ihren Bann. Vielleicht sind es ihre strahlend blauen Augen, die so verträumt dreinschauen. Oder ihre vollen Lippen, über die sie unbewusst leckt.
Eventuell ist es auch nicht ihr Aussehen, was mich so für sie einnimmt. Sie ist anders als die meisten Menschen, das spüre ich sofort und man sieht es ihr ja auch irgendwie an.

Alle Mädchen an der Pittsburgh Carrick High School waren aufgedonnert und nur auf ihr Aussehen und ihre Beliebtheit bedacht. Noch eine Eigenschaft die ich an Menschen hasse.

„Das ist Quinn. Sie ist mit ihrer Familie vor kurzem von New York nach Pittsburgh gezogen. Quinn ist noch ein wenig schüchtern, nicht wahr?"

Mr. Kingston beginnt zu lachen. Quinn schaut unbehaglich zu ihm hinauf. Es ist nicht das erste Mal, dass mein Klassenlehrer unbewusst jemanden in eine peinliche Situation bringt. Die neue Schülerin geht damit jedoch easy um. Sie steckt ihre Hände in die Taschen ihres Pullovers und schenkt jedem, der es auch nur wagt mit den Mundwinkeln zu zucken einen strengen Blick.

GefühlsblindheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt