Kapitel 4 ~ Graues Leben

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 Ich war im Waisenhaus. Schon wenn ich daran dachte, gefror mir das Blut in den Adern. Die Zeit verging. Nicht so schnell wie ich es mir erhofft hatte, aber sie verging. Jeder Tag kam mir länger vor. Jeder zog sich in die Länge wie ein Gummiband. Aufstehen. Kämpfen. Schlafen. Es war eine klägliche Zeit. Alles war grau. Ich hatte keine Freude mehr am Leben. Ich wollte nicht mehr. Aber ich muss. Das bin ich ihnen schuldig. Wenigstens das. Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, dass sie für mich gestorben sind. Dass sie mich beschützten, ihr Leben für mich opferten. Ich hatte keine Beweise, keinen Brief in dem einfühlsame Abschiedsworte geschrieben waren. Ich hatte nur mein Herz, welches mir sagte, dass ich nicht umsonst geboren bin. Dass es immer einen Sinn hatte, zu kämpfen, umzufallen, aufzustehen und weiter zu Kämpfen. Und ich war fest entschlossen mich zu rächen. Bei dem, der das alles meinen Eltern angetan hatte.
So litt ich jeden Tag. Bis zum Schulschluss. Ich wollte weg. Weg von diesem Haus. Raus in die Wildnis. In die Natur. Mir ein neues Leben aufbauen. Ich wollte nicht noch weiter in diesem elenden Kerker verbringen, bis ich alles um mich vergessen habe und verlerne zu leben. Nein, so wollte ich nicht Enden. Nicht so. Ich sass an meinem Pult und dachte nach. Über das was geschehen ist. Über den Schmerz den ich verspürte. Über die Wut und den Zorn der in meinen Adern brodelte. Wieso ich? Ich wollte das alles nicht glauben. Aber es war so. Und ich konnte es nicht ändern. Ich konnte ihnen nicht mehr helfen.

Schlagartig riss ich mich zusammen: „Ich bin nicht die Einzige, der dieses Schicksal widerfahren ist.“, Ich stand auf. Verzweifelt lief ich in meiner kleinen Kammer herum. Ich hatte Angst. Angst, dass ich keinen Ausweg finden werde. Dass ich ewig in diesem Bann von Verzweiflung, Traurigkeit und Wut verharren werde. „Ich muss was aus meinen Leben machen. Aber wie?“, flüsterte ich vor mich hin. Ich musste weg. Noch in dieser Nacht. Ich setzte mich wieder hin und grübelte nach, wie ich die vier Stockwerke überwinden konnte, ohne dass mich jemand bemerkte oder dass ich mir das Genick breche. Mir schien dies unmöglich.
„Hallo“, sagte eine hohe, piepsige Stimme. Augenblicklich sprang ich auf. Mein Herz raste. Ein kleines blondhaariges Mädchen stand da. Unschuldig, schüchtern, so dass es ihr Leid tat, dass sie mich erschreckte.

„Mach das nie wieder! Hörst du!“, ich schnauzte sie an, was ich aber blitzartig bereute. Sie wollte mich gar nicht erschrecken. Aber sie wollte mich auch nicht einfach begrüssen.
„Wieso bist du hier her gekommen?“, fragte ich. Aber sie schaute mich mit ihren grossen, bernsteinfarbenen Augen an. Bewundernd. Fasziniert. Glücklich.
„Mein Name ist Mila.“, immer noch starrte sie mich an. „ Ich kann dir helfen.“ Helfen in was, fragte ich mich. Ich wandte mich ab und setzte mich wieder. Sie kam zu mir. „Ich weiss was du willst. Als ich dich das erste Mal sah, war mir klar, dass du diesen Ort hier nicht magst. Ich wusste, dass du irgendwann nicht mehr hier sein wirst. Ich wartete und wartete aber ein Zimmer stand nie leer.“, ich schaute sie an. In ihre Augen die funkelten wie Sterne, ihre Lippen waren geschmeidig, ihre Haare waren kraftvoll und glänzten. Sie konnte höchstens 13 Jahre sein. Plötzlich fiel mir ein, dass Mila das kleine Mädchen war, das mich immer beobachtet hatte. Sie war mein Schatten. „Du…“, Mila unter brach mich: „ Ich will so sein wie du. So stark und unerschrocken. Du bist mein grosses Vorbild. Wenn ich eine Schwester hätte, dann würde ich mir so eine hübsche wie dich wünschen. Du bist einfach unglaublich. Stolz, tapfer, klug und du bist einfach du. Du versuchst dich nicht für jemanden zu verändern.“. War ich wirklich so? Ist mein Bild so anders als ich es mir vorgestellt habe?
„ Weisst du, du darfst dich nicht verändern weil es dir an einem anderen Menschen gefällt. Du musst immer du bleiben. Du musst dich finden. Deine Stärken. Deine Schwächen.“, ich schaute sie an. Und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich eine Freundin gefunden habe. Ich wollte sie anlächeln, brachte aber nur ein krampfhaftes zustande, was wahrscheinlich nicht gerade ein schöner Anblick war. Mila schmunzelte, fuhr aber fort: „Ich wohne im untersten Stock. Von da aus kann man problemlos flüchten.“. Wir heckten einen Plan aus. Nichts mehr stand uns im weg und ich musst lächeln. Nicht eine krampfhafte Grimasse sondern richtig. Ich lächelte, weil ich glaubte, dass alles gut werden wird.

Königblaues Blut *wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt