Kapitel 3 ~ Die Schatulle

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An den Fingernägel kauend, drehte ich mich um. Eine kleine, unscheinbare Frau stand vor mir, sie war um einige Zentimeter kleiner als ich und wesentlich dünner. Ich schnauzte sie an: „Wollen Sie mir sagen, dass meine Eltern tot sind?", ich schaute sie eine kurze Zeit an, fuhr aber dann weiter. Genervt, laut, traurig. „Ja, dies weiss ich auch schon! Oder wollen Sie mir jetzt sagen wie Leid es Ihnen tut? Den berühmten Satz ‚Mein herzliches Beileid' aber es Ihnen eigentlich egal ist!"

Sie schaute mich an. Mit ihren braunen, netten Augen. „Liebes", sagte sie zärtlich, leise und liebevoll.

„Nenn mich nicht Liebes! Sie kennen mich nicht, sie wissen nicht wie ich ticke, sie wissen nicht was in mir vorgeht, ob es mir gut geht oder schlecht. Sie wissen rein gar nichts von mir. Nur wie ich aussehe. Aber das Spielt keine Rolle. So weich meine Haut aussieht, ist sie noch lange nicht so. So geschmeidig und gesund meine Haare aussehen, so heisst das noch lange nicht dass sie es auch sind.", mittlerweile waren alle Augen auf mich gerichtet. Sie starrten mich alle so an als wäre ich gestört, geistig gestört.

„Ich spreche aus Erfahrung. Ich habe auch jemanden verloren der mir sehr am Herzen lag. Aber sie müssen sie sich jetzt beruhigen, konzentrieren.", sie wollte mir die Hand auf die Schulter legen, aber ich wich aus.

„Ich kann mich nicht beruhigen.", mein Körper zitterte. „Verdammt noch mal ich habe keine Freude, keine Verwandte. Ich bin alleine! Ich habe niemanden der mir tröstende Worte zuspricht, der mir hilft aufzustehen und weiterzukämpfen. Meine Eltern waren das Wasser für mich in der Wüste, sie schenkten mir immer und immer wieder Kraft, und jetzt sind sie nicht mehr da. Ich verdurste. Ich trockne aus. Ich suche weit und breit, verschwende jede Kraft die ich noch habe, aber so viel Mühe ich mir auch gebe, ich finde nirgendwo Wasser. Nirgends.

Ich hatte nie Freunde, ich habe keine, und ich werde auch nie welche haben. Ich bin einsam, verloren, habe keine Kraft mehr. Nichts mehr treibt mich an um weiterzumachen. Um weiterzuleben. Nichts. Rein gar nichts.". Ich schrie nicht. Ich flüsterte. Ich war traurig. Verzweifelt, wusste nicht mehr was tun. Einsam und allein. Die Frau schaute verlegen zu Boden, als wäre ihr klar geworden wie hart die Wahrheit, die Realität war. Sie hob ihren Kopf und sah mich an. Wieder mit den liebevollen, haselnussbraunen Augen. So wie meine Mum. Hastig nahm sie aus ihrer Handtasche eine kleine, schön verzierte Schatulle heraus. Sie war angemalt mit goldigen und silberigen Sternen. Genau den Geschmack meiner Mum. Alles war still. Vorsichtig nahm ich die Schatulle in die Hand. Ich versuchte nicht zu Atmen. Kein Ton zu machen. Aber es gelang mir nicht. Ein verkrampftes Einatmen entwischt meinem Mund. Nicht weinen. Nicht weinen! Aber ich konnte nicht anders. Ich liess alles raus. Alles. Die heftigen Schluchzer konnte ich einfach nicht unterdrücken.

Meine Mum liebte so Zeug. So fröhliches, lebendiges Zeug. Schmuck, Schatullen, Geschirr. Alles. Ein kleines, schnelles Lächeln fuhr über meine spröden, trockenen Lippen. Traurig, aber doch glücklich. Glücklich, über die Zeit die ich mich ihnen verbringen durfte. Kostbare, wertvolle Zeit.

Traurig, dass ich nicht mehr Zeit zur Verfügung hatte. Keine kostbare, wertvolle Zeit. Ich würde alles geben um sie noch einmal zu sehen. Nur für dieses eine Mal, würde ich sogar mein Leben aufs Spiel setzten. Das war es Wert. Was sie alles für mich getan haben. Mich gefüttert, mich aufgezogen, mich aufgemuntert, mit mir geweint, mit mir gelacht haben. Mich in schweren und guten Zeiten unterstützt haben. Was ich auch wollte. Ich bekam es. Vielleicht nicht in der Form in der ich es mir gewünscht hatte, aber ich bekam es. Auf irgendeine Weise. Sie taten alles für mich. Versuchten jeden Wunsch den ich hatte, zu erfüllen. Ganz egal was es war. Aber ich war nicht glücklich weil ich alles bekommen hatte. Nein. Ich war glücklich weil sie mich so akzeptiert hatten wie ich war. Weil sie mich so liebten, egal wie ich aussah. Und ich werde ihnen niemals danken können. Ich kann diese Schuld niemals begleichen. Niemals. Denn es ist nicht möglich Tote auferstehen lassen. Man kann sie nicht aus dem Grab herausholen und lebendig machen. Aber ich wünschte es mir so sehr. Es gab nichts anderes was ich wollte. Es wird immer mein grösster, stärkster Herzenswunsch sein. Endlos.

Mit meine verweinten Augen blickte ich in die Runde. Alle waren beschäftigt. Alle kümmerten sich um meine toten Eltern. Niemand kümmerte sich um mich. Ich stand verkrümmt da. Meine Knie zitterten. Meine Hände auch. Mein ganzer Körper zitterte. Ich war erschöpft. Münde. Von dem Weinen. Von dem sprechen. Die Kleinste Bewegung war die Qual. Die Hölle. Der Untergang. Ich zwang mich die Treppe hinaufzusteigen. Träge hob ich Fuss um Fuss. Schritt um Schritt. Ich versuchte nicht an dem Moment zu denken, an dem ich die Treppe hinunter stürmte. Die blanke Wahrheit mir hart und kalt ins Gesicht schlug. Aber es gelang mir nicht. Jedes Mal, wenn ich diese Treppe besteige, werde ich an diesen Augenblick denken. Ich konnte nicht in dem Haus bleiben. Ich konnte nicht. Das würde mich wahnsinnig machen. All die Trauer, die in dem Haus blieb. Der Geruch, der in der Luft schwebte. Die Leere, die einen Umhüllte wie in Schal. Als ich Oben angekommen bin, steuerte ich Richtung Zimmer meiner Eltern. Ich kletterte aufs Bett, hüllte mich mit der kühlen Bettdecke ein und trauerte. Endlich konnte ich trauern. Alleine. Einsam. Verloren.

Ich drückte mein Gesicht in das Kopfkissen. Es war ein wohltuender Geruch. Vertraut. Bekannt. Alltäglich. Es tat gut über das alles nachzudenken. Das was geschehen ist, zu verarbeiten. Noch nicht hinter sich zu lassen. Aber zu verarbeiten.

Irgendwann, als meine Tränen auf meinen Wangen trockneten, schlief ich ein. Ich träumte zum Glück nicht.

Während ich meine Augen öffnete, wollte ich wissen was sich in der Schatulle verbarg. Ich schaute mir sie genauer an. Sie hatte ein kleines Schlüsselloch, welches ich fast übersehen hätte. Ich fasste mir an Hals. Meine Finger spürten eine kleine Form. Einen Schlüssel. Ich nahm ihn mir ab und öffnete die kleine Truhe. Innen war sie mit königlichem rot ausgestattet. Und ein glatter blauer Stein war in der Mitte platziert. Er glänzte und schimmerte. Daneben befand sich ein kleiner, zerknitterter Zettel. Ich nahm ihn zwischen die Finger und las die mit verschnörkelter Schrift geschriebenen Worte. Träum süss! Die Schrift was von meiner Mutter. Da war ich mir 100 Prozent sicher. Aber der Zettel war mir ein Rätsel. Wieso hatte sie das getan? Wieso hatte sie das Kästchen bei sich als sie starb? Zufall? Wusste sie, dass sie am Tod nahe war, als sie dies geschrieben hatte?

Königblaues Blut *wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt