Shugun erzählt...
„Ich habe ihm von einer alten Sage erzählt." „Das hilft uns wohl auch nicht weiter." Ich war enttäuscht. Ich hatte auf einen eindeutigen Hinweis gehofft. „Doch!", widersprach Deborah energisch„es war die Sage des Lebenselixiers, das alle Krankheiten heilt." „Und du denkst jetzt, dass Radun wegen dieser Sage abgehauen ist? Das er an dieses Elixier glaubt?" „Ja!" Ihre Stimme klang so zuversichtlich, dass ich meine Meinung über sie änderte. Sie ist anscheinend nicht nur blöd! Sie ist vollkommen bescheuert! „Unmöglich! Radun ist doch nicht mehr vier! Er glaubt nicht jedes Märchen das man ihm erzählt." „Aber ich rede doch gar nicht von einem Märchen! Ich rede von einer Sage!" „Und was ändert das?" Diese Frau regte mich auf. „Eine Sage hat einen wahren Kern.", sagte sie feierlich, melodramatisch als würde sie ein Gedicht rezitieren. „Ich werde sie dir erzählen, wenn du willst." Ohne eine Antwort abzuwarten fing sie an:„Vor langer Zeit..."„...als das wünschen noch geholfen hat. Ich weiß, ich weiß. Wir leben nicht mehr in so einer Zeit. Kannst du dich also bitte kurzfassen! Während wir hier sitzen, wird Radun vielleicht schon von Mördern verschleppt."„Dann können wir sowieso nichts mehr machen. Wenn du mich fragst, töten Mörder ihre Opfer nämlich, bevor sie sie verschleppen."„Ach, wie beruhigend! Schön, dass wir das jetzt geklärt haben. Wenn man hier wohnt, muss man sich ja mit Mördern auskennen." „Diese Geschichten glaubst du also?" Der Spott in ihren Worten war nicht zu überhören. Nicht darauf eingehen! ,ermahnte ich mich. Lass dich von dieser dämlichen Schnepfe nicht ärgern. „Du glaubst also, dass es dieses sogenannte Lebenselixier gibt und hast Radun überredet es zu suchen."Das hättest sie mir auch gleich sagen können. „Und wohin hast du ihn geschickt?" „Ich hab ihn überhaupt nicht überredet und weggeschickt erst recht nicht. Ich habe ihm nur gesagt, dass ich glaube, dass es dieses Lebenselixier wirklich gibt, als er mich nach meiner Meinung gefragt hat." „Und wo es zu finden ist?" „Das wollte er auch unbedingt wissen. Ach, ich hätte mir den Ausgang denken können. Er war so aufgeregt. Da hab ich es ihm halt gesagt." Besorgt und schuldbewusst stütze sie den Kopf in ihre Hände, als würde er auf einmal nicht mehr fest auf ihrem Hals sitzen. Verständnisvoll schwieg ich eine Zeit lang. „Das kannst du jetzt wieder gut machen, indem du mir sagst, was du ihm erzählt hast.", schlug ich dann vor. Zum ersten Mal war sie mir ein bisschen sympathisch. Doch sie zerstörte diesen Eindruck sofort. „Ich glaube nicht, dass ich an seinem Verschwinden Schuld bin. Ich habe schließlich nur dem Befehl Seiner Hoheit Folge geleistet." Wie einfach sich manche Menschen das Leben machen, dachte ich verbittert. „Und jetzt leistest du meinem Befehl Folge und sagst mir, wohin Radun geritten ist. Ich habe schon zu viel kostbare Zeit verloren. Ich muss ihn schließlich so schnell wie möglich einholen." „Er ist wahrscheinlich ins Mystasgebirge aufgebrochen." „Was für ein Gebirge?", verzweifelt rief ich mir alle Unterrichtsstunden ins Gedächtnis, in denen ich die Geographie Cadumerums studiert hatten. Von einem „Mystasgebirge" hatte ich noch nie etwas gehört. „Es ist auf einer Insel im Meer. Im Winter umgeben von Nebelschwaden und im Sommer...", erzählt sie mit geheimnisvoll angehauchter Stimme. „Es genügt mir zu wissen, wo es sich befindet.", unterbrach ich sie. „Aber das weiß niemand so genau.", meinte sie „Ich kann dir nur genau sagen, was über diesen Ort überliefert wird." „Du hast also überhaupt keine Ahnung?" Ungläubig starrte ich sie an. „Ich habe eine Vermutung." Sie kniete sich auf den Boden. Ich sah ihr über die Schulter. Sie zeichnete mit dem Finger etwas in den festgetretenen Lehmboden. „Oh, erzählst du mir jetzt die Geschichte von Mondmann? Oder soll das ein Delfin sein?" Ich hatte es aufgegeben freundlich zu sein. Ich war zu genervt von ihr. „Sehr witzig." Sie verdrehte die Augen. „Das ist Cadumerun. Es kann sich halt nicht jeder schöne Landkarten aus Pergament leisten." Sie war anscheinend auch genervt. Auch gut. Momentan war mir das egal. „Und das Mystasgebirge ist an der unteren Spitze des „Mondes". Ein Ort, an dem noch die Wildnis herrscht. Keine Besiedlung. Keine Tiere. Keine nennenswerte Vegetation. Nur Eis und Schnee. Auf Felsen, in die das sprudelnde Meer im Laufe von Jahrtausenden wüste, bizarre Figuren geschliffen hat. Und wenn der Nebel kommt..." Mir lief ein Schauder über den Rücken. Trotzdem unterbrach ich sie. „Ich haben keine Zeit für lange Erzählungen. Ich muss unbedingt heute noch aufbrechen." „Du meinst: Wir müssen aufbrechen." „Ich kann dich doch nicht mitnehmen.", stellte ich entsetzt klar. „Doch, natürlich. Schließlich weiß ich, wo das Gebirge ist."Was für eine sinnlose Diskussion, dachte ich entnervt und wollte schon einfach gehen, als plötzlich ein Engel vom Himmel geflogen kam und sagte: „Keine Angst! Er wird dich mitnehmen." Vor Schreck war ich ein paar Sekunden wie gelähmt. Bis ich begriff: Das war gar kein Engel, obwohl die hellblonden, knielangen Haare des Mädchens, es wie einen aussehen ließen. Es war auch nicht geflogen, sondern bloß durch eine Klappe, in der Decke, hinuntergesprungen. „Suleika, hast du etwa gelauscht?", fragte Deborah streng. „Und wie oft soll ich dir noch sagen, dass du durch die Tür gehen sollst! Irgendwann brichst du dir noch die Beine." „Und wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich kein kleines, kümmerliches Kind mehr bin. Ich kann auf mich aufpassen." Trotzig kniff sie den Mund zusammen.
Während die beiden sich noch mit Blicken maßen, schlich ich mich zur Tür. Doch als ich gerade abhauen wollte, stieß ich mit jemandem zusammen.
DU LIEST GERADE
Das Lebenselixier
FantasyCadumerun: Ein Land wie aus 1001 Nacht. Oder doch nicht? Um ihren totkranken Bruder zu retten, ziehen Shugun und Radun in das Mystas Gebirge, um das sagenumwobene Lebenselixier zu finden. Was sie nicht wissen: Sie gelangen damit in das Nest der Rebe...