Kapitel 2

55 3 0
                                    



Schon bevor er sein Zuhause überhaupt betreten hatte hörte er die Musik seiner Schwester, die offenbar die halbe Nachbarschaft mit ihrer Technomucke beschallen wollte.

"Liv! Liiiv!", brüllte er also durch das Haus, kaum das er durch die Tür getreten war. Sekunden später flog im 1. Stock eine der Türen auf und seine Schwester kam gut gelaunt die Treppe herunter gerannt. Die Musik plärrte weiter, jetzt eventuell sogar noch ein paar Dezibel lauter, als zuvor. Er hatte kaum die Jacke ausgezogen und den Rucksack in die Ecke verschwinden lassen, da warf sie sich auch schon in seine Arme. Lächelnd drückte er sie an sich.

"Wolltest du die Nachbarn zu einem Festival einladen?", fragte er schmunzelnd und Liv kicherte entzückt.

"Das wäre doch mal ne Idee für den Sommer. Wir machen einfach unser eigenes Festival, laden die ganzen coolen Bands und DJ's ein und für alle Nachbarn und Freunde ist freier Eintritt", plante sie schon mit leuchtenden Augen. Sam musste grinsen. Wenn das nur so einfach wäre.

"Irgendwann wirst du alt genug sein selber auf ein Festival zu fahren. Aber bis dahin überstrapazieren wir doch die Nerven und Ohren unserer Nachbarn nicht, okay?", erwiderte er. Liv setzte zu einer Antwort an, doch Sam unterbrach sie sofort.

"Liiiiv", zog er ihren Namen lang und wedelte mit der Hand in Richtung Treppe. Sichtlich angefressen zog Liv ab und Sam verzog sich in die Küche. Wenig später verstummte die Musik und er hörte seine Schwester langsam wieder die Treppe herunter kommen. Sie setzte sich an den Küchentisch, während er noch einen Moment im Kühlschrank herumsuchte und sich schließlich mit einem Joghurt zu ihr setzte.

"Wie war die Schule?", fragte er zwischen zwei Löffeln seines Snacks. Liv seufzte und legte den Kopf auf den verschränkten Armen ab.

"Wir hatten schon wieder Freiarbeit, weil die Lehrer alle krank sind", begann sie zu erzählen. Sam hörte ihr zu, während sie sich über ihre Klassenkameraden und Lehrer ausließ, stellte zwischendurch kleinere Fragen und vermied dabei ganz bewusst den Blick auf die Uhr. "... und Toni hat sich heute lieber mit Leon im Freibad verabredet, als mit mir an den See zu fahren", beschwerte sie sich abschließend.

"Ist es nicht noch etwas kalt zum Schwimmen?", fragte Sam stirnrunzelnd. "Nachher werdet ihr noch krank, wie eure Lehrer." Liv stimmte ihm zu und erhob sich schließlich. Als sie schon aus der Tür hinaus war fiel Sam noch etwas ein.

"Liv?", rief er sie zurück. "Habt ihr die Mathearbeit wiederbekommen?", stellte er die Frage, der sie zweifellos zu entgehen versucht hatte. Mit zerknirschtem Blick nickte sie. Sam seufzte. Sein eigenes Mathetalent schien seine Schwester nicht geerbt zu haben. "Legst du mir die Arbeit raus? Dann guck ich mir das an und nachher können wir mal versuchen das zusammen zu verstehen, okay?" Sie nickte wieder und verschwand nach oben. Sam warf jetzt doch einen Blick zur Uhr. Kurz nach fünf. Er seufzte tief und fuhr sich mit den Händen durch das müde Gesicht. Es nützte nichts, er musste mit den Hausaufgaben anfangen. Unmotiviert schleppte er sich die Treppe hoch und steckte im Vorbeigehen noch mal kurz den Kopf in Liv's Zimmer.

"Ich muss eben was für die Schule tun, sagst du mir spätestens um sieben bescheid?", bat er und verschwand anschließend in seinem eigenen Zimmer. Einen sehnsüchtigen Blick zu seinem Bett und dem Laptop werfend setzte er sich an seinen Schreibtisch und kramte seine Englischsachen hervor. Diese Erörterung würde sich ja doch nicht von selbst schreiben.


Nach mal wieder viel zu wenig Schlaf schreckte er am nächsten Morgen hoch und schälte sich gähnend aus dem Bett. Er klopfte an die Tür seiner Schwester.

"Liv, komm, aufstehen", forderte er sie auf und machte das Licht an. Von Liv hörte er lediglich ein unwilliges Murren. Er zog weiter ins Bad und begann dort mit der Morgenroutine.

Um diesen nicht ganz so perfekten Morgen noch besser zu machen hatte natürlich auch noch der Bus Verspätung und so standen sie sich an der Bushaltestelle geschlagene 15 Minuten die Beine in den Bauch. Zwischenzeitlich erwog Sam tatsächlich einfach wieder nach Hause zu fahren und die Schule einfach mal Schule sein zu lassen. Dieser Traum, den wohl jeder Schüler zwischendurch mal träumte, blieb aber genau das. Ein Traum.

Als er schließlich an der Schule ankam war er mehr, als nur spät dran. Vermutlich hatte der Physikkurs sogar schon angefangen. Verdammt.

Diese Befürchtung bestätigte sich allerdings nicht, denn als er um die Ecke zum Physikgang bog, fand er seinen Kurs vollständig versammelt vor der geschlossenen Tür des Raums.

Der Lehrer ließ noch zwei Minuten auf sich warten und lies sie schließlich mit einem furchtbar gut gelaunten "Guten Morgen!" in den Kursraum. Wie konnte man um diese Uhrzeit nur schon so gute Laune haben? Sam war es vollkommen unverständlich und er schleppte sich gähnend die wenigen Stufen hoch zu seinem Platz in der zweiten Reihe. Augenblicke später ließ sich Johnny neben ihn fallen. Der saß eigentlich laut Sitzplan zwei Reihen weiter mit Ray in der letzten Reihe, aber dieser schien heute mal wieder die ersten Stunden blau zu machen. Sam nickte ihm zu und versuchte irgendwie ein Gähnen zu unterdrücken, scheiterte aber kläglich.

"Spät geworden gestern?", fragte ihn Johnny mit wissendem Blick. Sam lachte.

"Wird es das nicht jedes mal? Saß einfach Stunden an der scheiß Englischerörterung und hätte Deutsch eigentlich auch noch machen müssen...", fasste er seinen Abend kurz zusammen. Tatsächlich war er erst weit nach Mitternacht annähernd fertig geworden. Mathe üben mit Liv hatte dann doch mehr Zeit in Anspruch genommen, als erwartet.

"Und dann alles umsonst. So ein Jammer", antwortete Johnny.

"Wie jetzt?", fragte Sam verwirrt.

"Englisch fällt aus. Die olle Boan ist krank, steht zumindest auf dem Vertretungsplan", erklärte Johnny. Sam ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Das konnte doch nicht wahr sein.

"Kopf hoch, immerhin ne Freistunde. Lass uns nen Kaffee trinken gehen, ich glaub den hast du echt nötig", versuchte ihn Johnny aufzumuntern und Sam nickte nur stumm. Dieser Tag schien es echt nicht gut mit ihm zu meinen.

Vorne an der Tafel begann Herr Nohl seinen Unterricht wie immer mit der Anwesenheitsliste. Sam und Johnny meldeten sich also kurz nacheinander. Müller und Mohn lagen im Alphabet einfach viel zu nah beieinander. Ein kleines Lächeln konnte sich Sam dann doch nicht verkneifen, als er sich meldete, kaum das Johnny seinen Arm gesenkt hatte. Herr Nohl ließ es sich natürlich nicht nehmen seinen Vornamen komplett und grausam falsch betont zu nennen. In solchen Momenten verfluchte er seine Eltern jedes mal, die sich, statt für die Standardform Samuel, für den wohlklingenden Namen Samed entschieden hatten. 

"Luka Tesmer?", fragte Herr Nohl abschließend und blickte von seinem Zettel auf. "Mal wieder nicht....", murmelte er anschließend nicht sonderlich überrascht und machte ein kleines Kreuz. "Johannes, wissen sie zufällig, wo ihr Sitznachbar verblieben ist?", wandte er sich schließlich an Johnny, der nur stumm den Kopf schüttelte. "Nun schön. Dann lassen sie uns anfangen. Antonia, würden Sie bitte die letzte Stunde zusammenfassen?", begann Herr Nohl seinen Unterricht und bat ein schüchternes Mädchen aus der ersten Reihe nach vorne.

Johnny neben ihm murrte vor sich hin: "Warum denken eigentlich alle, dass ich weiß, was im Hirn von diesem Idioten abgeht? Bin ich seine verdammte Sekretärin, oder was?"

Sam behielt seine Meinung ausnahmsweise mal für sich und versuchte Antonias etwas wirrer Erklärung zu folgen. Physik war tatsächlich eines seiner schwächeren Fächer, verstehe das wer will, Mathe konnte er schließlich, aber Physik war dann einfach doch ein bisschen zu abstrakt.


Fate is a bitchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt