Kapitel 9

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Ein wenig hilflos hockte Lucifer an der Bettkante und versuchte behutsam, sein Bein zu belasten. Drei Tage der Bettruhe und Leonas mütterlicher Pflege hatten seinem Geist gutgetan, doch sein Körper schmerzte noch immer von den Misshandlungen Satans. Sobald er auch nur versuchte, selbstständig zu stehen, zwang ihn der unglaubliche Schmerz in seinem Knie wieder aufs Bett, sodass er ohne Krücken vollkommen ausgeliefert war.

Leona sah mehrmals täglich nach ihm, brachte ihm Nahrung und Wasser zum Waschen, doch dem Mitgefühl einer Dämonin ausgeliefert zu sein bereitete dem stolzen Engel Unbehagen. Ab und an sah Amon bei ihm vorbei, doch dann lieferten sie sich lediglich Blickduelle, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Dennoch schätzte Lucifer die Gesellschaft des Schwertdämons, denn er strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus, die dem Engel selbst Mut machte.

Als Leona eintrat, versuchte Lucifer soeben, ohne Stütze durch den Raum zu humpeln, woran er kläglich scheiterte. Mit einem warmen Lächeln setzte die einarmige Dämonin sich aufs Bett und sah ihm zu, bis er sich zu ihr gesellte. Schweißtropfen klebten an seiner Stirn, ohne dass die Anstrengung gefruchtet hätten.

„Du solltest dein Bein schonen, Lichtbringer", sagte sie sanft. „Wenn der Knochen schief verheilt, wirst du sonst humpeln."

„Das ist noch meine geringste Sorge", knurrte Lucifer unwillig und betrachtete unglücklich sein verletztes Bein.

„Schone deine Kräfte für heute Nachmittag, Lichtbringer. Eine Delegation des Himmels wird sich zwecks Friedensverhandlungen mit Satan in der Hölle einfinden; vielleicht können deine Leute dir helfen, von diesem Ort zu entkommen." Die Sorge in ihrer Stimme war echt, dennoch hätte Lucifer die Dämonin für diesen Kommentar am liebsten angeschrien.

„Ich will ihre Hilfe nicht!", grollte er. „Gott hat mir diese Strafe auferlegt und ich werde sie ertragen, wie von mir erwartet!"

Er erwartete nicht, dass sie es verstand, und war dementsprechend nicht überrascht, als sie ihn skeptisch betrachtete. Vielleicht glaubte sie, er habe den Ernst der Lage noch nicht richtig verstanden, vielleicht hielt sie ihn auch einfach für dumm, nicht die erstbeste Chance zu ergreifen, von hier zu entkommen. Doch alles in Lucifer sträubte sich dagegen, andere Engel um Hilfe zu bitten, wobei er auch stark bezweifelte, dass sie ihm überhaupt helfen konnten. Dennoch freute er sich auf ein paar möglicherweise vertraute Gesichter, die ihm als Licht der Hoffnung in diesen finsteren Stunden leuchteten.

Bis zum Nachmittag verharrte er ruhend in seinem Raum, ohne von Satan belästigt zu werden. Erst als Amon eintrat und ihn über die Ankunft eines Engels in Kenntnis setzte, raffte Lucifer sich auf und humpelte, teilweise von Amon gestützt, zum Haupteingang des Palastes. Hier würde er den Engel, wer auch immer es sein mochte, abfangen können, ohne von Satan erwischt zu werden.

Sorgfältig legte Lucifer sich die Worte zurecht, die er an den Engel richten würde; eine Nachricht an Michael und Beliel, dass er noch am Leben wäre und sie sich keine Sorgen machen müssten. Je länger er über die beiden Männer, die ihm in seinem Leben am wichtigsten waren, nachdachte, desto zuversichtlicher wurde er.

Amon hielt sich im Hintergrund verborgen, doch Lucifer konnte seine Anwesenheit deutlich spüren. Merkwürdigerweise gab es ihm ein Gefühl von Sicherheit, solange er den wachenden Blick des Dämons auf sich wusste.

An eine Säule gelehnt wartete der geschundene Engel, bis er sich rasch nähernde Schritte hörte. Erwartungsvoll blickte er dem Engel entgegen und erkannte ihn auf Anhieb. Es handelte sich um einen kräftigen Erzengel mit bronzefarbenem Haar und von wahrer göttlicher Schönheit: Raziel, der Günstling Gottes.

Unruhig biss Lucifer sich auf die Unterlippe. Raziel war niemals in Frage gekommen für eine Revolution gegen Gott, doch es wunderte Lucifer, dass der Herr einen Engel niederen Ranges für eine wichtige Aufgabe wie diese ausgewählt hatte. Mit so viel Körperspannung wie möglich kam er ihm entgegen und bemühte sich, seine Beinverletzung nicht zu zeigen.

LUCIFER - HöllensturzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt