Kapitel 20

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Die Hölle war stetsvon einem entfernten Glimmen erfüllt, sodass es draußen niemalsvöllig dunkel wurde, so wie in der Menschenwelt. Lucifer stapfte miteinem ganzen Eimer voller frischem Fleisch hinaus zum Auslauf, den erhatte vergrößern lassen, sodass den fleischfressenden Pferdeninzwischen ein halber Quadratkilometer Platz zur Verfügung stand.

Er lehnte sich ansGatter und wartete, bis die ersten Tiere das Fleisch witterten undauf ihn aufmerksam wurden. Ab und an erbeuteten sie einenunvorsichtigen Hasen oder zu frechen Vogel, dann klebte ihnenmanchmal Blut am Hals und am Maul.

Seine Stute, die eran der Narbe am Widerrist durch den Schwertstreich erkennen konnte,trabte der Gruppe mit hoch erhobenem Kopf voran. Witternd nähertesie sich, doch als Lucifer ihr ein Stück Fleisch hinhielt, kam sieohne Scheu heran und fraß ihm aus der Hand.

Sanft tätschelte erihren Hals und erntete ein Schnauben der übrigen Herdenmitglieder,die ihn inzwischen akzeptiert zu haben schienen. Seine Hand streiftedas Kurzschwert, das an seinem Gürtel hing, um sich notfalls gegendie Tiere verteidigen zu können.
Mit dem Futtereimer in der Handschwang Lucifer sich über das Gatter und begann, den Pferden dasFleisch zuzuwerfen, sodass wenige Minuten später der Auslauf vomschmatzenden Geräusch zerreißenden Fleischs erfüllt war.

Schweigend ging erzwischen ihnen entlang, tätschelte die langen Hälse und säubertegrob das dunkle Fell, kämmte mit den Fingern die Mähne. Seine Stutetrottete ihm auf der Suche nach Futter hinterher und stupste mit demMaul gegen seine Schulter, wenn er ihr zu lange keine Beachtungschenkte. Tief in ihrem Inneren waren diese Raubtiere immer nochPferde.

Lucifer umarmte dasTier und tätschelte seinen Hals. Er kam sich so verloren undüberfordert mit der Aufgabe vor, vor die ihn das Schicksal gestellthatte. Natürlich war er am Leben, doch um welchen Preis? Manchmalwünschte er, er wäre im Kampf gegen Satan gefallen.

Wie musste Michaelvon ihm denken, jetzt da er zu einem Dämon geworden war? Ob Belielihn von sich schieben würde, sobald er in seine Augen sah? DieVerachtung in Arariels Blick, sobald er feststellen musste, dassLucifer zu einer Bestie geworden war. Verzweifelt lehnte Lucifer sichgegen das Gatter und starrte auf in den düsteren Himmel der Hölle.

Bei seinem Kampf ummehr Gerechtigkeit in Gottes Reich hatte er schändlich versagt undsoeben war er dabei, den schlimmsten Feinden des Himmels dabei zuhelfen, ein stabiles Rechtssystem zu etablieren. Er ordnete dieReihen des Gegners, um dessen Kampfkraft zu erhöhen. Zunehmendfühlte er sich wie der Verräter, für den man ihn unter den Engelnhalten musste.

Sein Inneres zogsich zusammen bei dem Gedanken daran, wie tief er wirklich gefallenwar: vom Helden und Retter des Himmels zum größten Verräter.

Verzweifelt fuhr ersich durchs Haar und suchte nach einer Möglichkeit, sich mit demHimmel und seinen Freunden zu versöhnen. Doch immer wieder stand ihmRaziels ablehnende Reaktion auf sein Hilfegesuch vor Augen; einrangniedriger Engel, der ihn ohne den geringsten Respekt zurückstießund für den größten Dreck jenseits Edens hielt. Vielleicht hatteSatan doch recht gehabt, als er Lucifers Leben weniger Wert alsStaub beigemessen hatte.

„Michael...",wisperte er, doch die Erinnerungen, an die er sich all die Zeit zuklammern versucht hatte, verblasste allmählich und wich einer tiefenHoffnungslosigkeit. Als König der Hölle den Namen eines Erzengelsanzurufen erschien ihm wie eine Sünde.

Behutsam glittenseine Finger über die Schwertklinge, bis er sich schnitt und einBlutstropfen über den polierten Stahl rollte. Ein Anblick vonfaszinierender wie grotesker Schönheit. Langsam hob er das Schwert,setzte die Spitze an seine Brust und dachte an den Pakt, den er mitLilith geschlossen hatte. Er würde ihn nicht erfüllen können.

„Lucifer!"

Leona packte seinHandgelenk und bog es so zur Seite, dass Lucifer reflexartig dasSchwert fallen ließ. Mit weit aufgerissenen Augen sah die Dämoninihn an, bevor sie ihm einen Schlag ins Gesicht versetzte, der denüberraschten Dämon ins Taumeln brachte. Reflexartig nahm er eineDefensivstellung ein, doch Leona schien nicht auf eine handfesteAuseinandersetzung aus zu sein, als sie ihn anzuschreien begann.

„Wie kannst du eswagen, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen!", fuhr sie ihn an.„Weißt du überhaupt, was du damit anrichtest? Mein Sohn hat seinLeben für dich gelassen, damit du eine Chance hast, damit du esbesser machen kannst, und wie dankst du es ihm? Du wirfst diesesGeschenk einfach weg!"

Die Gardinenpredigttraf Lucifer tiefer, als er zugeben wollte. Natürlich kreisten seineGedanken ständig um Amons Opfer und die Schuld, die Lucifer damitauf sich geladen hatte. Doch es jetzt noch einmal von außenbestätigt zu bekommen verletzte ihn.

„Ich weiß, ichweiß, ich weiß!", brüllte er, bückte sich nach dem Schwert undrammte es in den Schlamm. „Aber ich war keine eurer Bemühungenwert; ich kann euch nicht helfen, Leona, weder dir, noch Amon, nochirgendeinem anderen Dämon! Ich kann es einfach nicht!" Sein Halsschmerzte, so laut hatte er geschrien. „Ich bin ein Engel, verstehdas doch! Kein Dämon und schon gar kein Höllenkönig! Es tut mirleid, aber du siehst einfach nicht in mir, was ich wirklich bin!"

Seine Reißzähneschnitten in seine Unterlippe und aus seinen Fingerspitzen wuchsenKlauen. Lucifer spürte diese abstoßende Andersartigkeit an sich undhätte sich am liebsten bei vollem Bewusstsein die Brustaufgeschnitten. So wollte er nicht sein; ein von Instinktengetriebenes Monster, das es nach Seelen dürstete. Ein Wesen, auf dasandere herabsahen. So konnte er nicht sein.

„Ich glaube, dusiehst nicht, was du wirklich bist, Lichtbringer!", schrie Leonazurück. „Du hast Satan getötet, du kannst uns alle davor retten,noch mehr Chaos in die Welt zu bringen!"

„Das kann ich ebennicht. Ich weiß nicht, wie. Ich habe keine Ahnung von der Mentalitätder Dämonen!"

Immer lauter wurdeihr Wortgefecht und Lucifer zunehmend wütender. Er beobachtete, wieLeona immer weiter ihre Dämonenform annahm, je mehr sie sich in Rageredete. Ihre Worte prallten an ihm ab.

„Leona!",brachte er sie schließlich zum Schweigen. „Du lebst in einemWunschtraum! Sieh es endlich ein: Amon ist tot und er war nicht deinSohn!"

Er sah ihre Klauennicht kommen, sondern spürte erst den Schmerz, bevor er realisierte,dass sie ihm die Klauen quer übers Gesicht gezogen hatte. Er packtedas Schwert, das noch immer vor ihm im Matsch steckte, und hob esschützend vor sich. Die Dämonin bleckte die Zähne und stieß eindrohendes Fauchen aus.

„Vielleicht habeich mich wirklich in dir geirrt, Lichtbringer." Den Titel, den siesonst voll Bewunderung ausgesprochen hatte, klang nun abwertend. „Dubist nicht besser als Satan!"

Lucifer sah, wie siesich für einen weiteren Angriff anspannte, kam ihr jedoch zuvor undstieß ihr die Klinge direkt durch die Brust. Warmes Blut spritzteauf seine Hand und besprenkelte die Schwertklinge, doch dem Bild gingjegliche Ästhetik ab.

„Vergleich michniemals mit Satan!", knurrte er und zog das Schwert aus ihrem nochwarmen Körper. Innerlich leer sah er sie nach hinten kippen, währendsich eine Blutlache um sie herum bildete. Vom Geruch des Blutes unddes Todes angelockt stürmten die Pferde heran, scharten sich unruhigum den Leichnam, bis Lucifers Stute tollkühn voranschritt und dieTote mit dem Huf anstieß.

Danach gab es keinHalten mehr. Als Lucifer sich über das Gatter schwang und denAuslauf hinter sich ließ, erklang hinter ihm das Schmatzen undReißen von Kleidung, als die Tiere das Fleisch freilegten. Er drehtesich nicht um.


LUCIFER - HöllensturzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt