Stur blickte ich den Teller vor mir an und spießte ein Stück des Schokoladenkuchens mit der Gabel auf. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie es so weit hatte kommen können. Heute Mittag noch hatte ich mich in den Zug gesetzt, um mir ein bestimmtes Buch anzuschaffen und nun, ein paar Stunden später, saß ich ich hier und starrte auf ein Stück Kuchen hinab. Das konnte nie und nimmer richtig sein!
"Hat Ihnen die schöne Aussicht etwa die Sprache verschlagen?"
Unwillkürlich sah ich auf, direkt zu Herr Finnig, der mit einem Erdbeerkuchen und grünem Tee mir gegenüber saß. Seinen Blick hatte er von mir abgewandt, stattdessen blickte er hinaus zum Bodensee. Das kleine Café, in dem wir uns niedergelassen hatten, lag nicht weit davon entfernt und bot uns somit tatsächlich eine überaus schöne Aussicht.Mein eigener Blick nahm von dieser Schönheit jedoch kaum etwas wahr; ich war viel mehr damit beschäftigt, Finnigs Profil zu betrachten, solange er es nicht mitbekam. Seine Nase war nicht annähernd so gerade, wie angenommen, stellte ich fest. Sie wies einen deutlichen Höcker auf - ob er sie sich schon einmal gebrochen hatte? Und durch welche Umstände? Ich wollte mir all diese Fragen nicht stellen. Fragen zeugten von Interesse und das war das Letzte, was ich für Finnig empfinden wollte, was ich für jeden anderen Mann, meinen Bruder ausgeschlossen, empfinden wollte.
"Oder liege ich ganz falsch mit meiner Behauptung und etwas anderes ist dafür verantwortlich?" Sein Blick lag wieder auf meinem Gesicht, musterte es mit einem für mich undeutbaren Ausdruck in den blauen Augen.
"Ich ziehe es nur vor, meinen Kuchen in Ruhe zu genießen", meinte ich ausweichend und unterbrach ertappt den Augenkontakt. Meine volle Aufmerksamkeit galt wieder dem fast unberührtem Kuchen auf meinem Teller. Mein Magen rumorte, der Hunger war dementsprechend nicht vorhanden.
"Das glaube ich Ihnen nicht."
Warum?, war mein erster Gedanke, doch es waren andere Worte, die meinen Mund verließen. "Sie kennen mich nicht. Es spielt keine Rolle, ob sie mir glauben." Mit einer neuen Welle des Mutes sah ich auf.
"Wenn das stimmt, habe ich mich eindeutig für den falschen Beruf entschieden", erwiderte er mit einem Schmunzeln und dann um einiges ernster: "Sie wollen es vielleicht nicht hören, aber ich kenne Sie besser als Sie denken."
"Beweisen Sie es!", forderte ich ihn auf und richtete mich ein wenig in meinem Stuhl auf. Ich war neugierig darauf, zu erfahren, was er zu sagen hatte. Es konnte nicht mehr sein als andere Lehrer ebenfalls über mich wussten.
"Wo soll ich anfangen? Ihre Leistungen sind durchschnitt, außer in Mathematik und Biologie, da sind sie unterdurchschnittlich ..."Autsch.
"..., aber sie haben ein außergewöhnliches Talent bezüglich der Kunst und anderer Sprachen. Dieses Schuljahr haben Sie begonnen, Ihre Arbeiten selbst zu unterschreiben, also nehme ich an, Sie hatten in den Sommerferien Ihren 18. Geburtstag - ich tippe ja auf September. Außerdem sind sie still und zurückhaltend. In meinem Unterricht haben Sie sich unglaubliche zwei Mal gemeldet, seitdem ich Sie unterrichte. Und wenn Sie nervös werden, beißen Sie sich auf die Unterlippe oder rücken die Brille zurecht. Beides nehmen Sie aber wahrscheinlich gar nicht wahr. Zu erwähnen wäre noch, dass sie nur eine einzige Freundin haben. Wenn Sie in ihrer Nähe sind, werden Sie aufgeschlossener, Sie reden und Sie lachen. Auch gerne, während sie beide irgendwelche Leckereien verputzen." Ein schiefes Lächeln legte sich bei dem letzten Satz auf seine Lippen.
Eine gefühlte Ewigkeit tat ich nichts anderes als ihn anzustarren. Was er aufgezählt hatte, entsprach ganz und gar nicht meinen Erwartungen.
"Stalken Sie mich?"
"Ich bin einfach nur sehr aufmerksam", erwiderte er, sichtlich amüsiert über meine Anschuldigung.
"Warum sind Sie mir dann aus dem Laden gefolgt?" Als ich genauer darüber nachdachte, fiel mir noch etwas ein. "Und woher wussten Sie eigentlich, dass es meine Bücher waren? Sie hätten jedem gehören können." Das war eine von Grund auf berechtigte Frage.
"Sie haben mich doch gesehen, liegt es da nicht nahe, dass ich Sie auch gesehen haben könnte?"Oh ... das ergab natürlich Sinn.
"Dennoch ... ich verstehe Sie nicht", rutschte es mir heraus. Sein Verhalten mir gegenüber war suspekt, nicht begreifbar für mich.
"Warum nicht?", hakte er neugierig nach, strich sich ein weiteres Mal durchs Haar und beugte sich etwas zu mir vor. Der Kuchen und Tee waren in Vergessenheit geraten.
"Dass ich Ihnen das wirklich erklären muss! Vor einem Monat kannten Sie nicht einmal meinen Namen und nun sitze ich hier und trinke mit Ihnen einen Tee. Lehrer laden Ihre Schülerinnen nicht einfach ein ..." Meine Stimme wurde deutlich leiser, fast murmelte ich die Worte. " ... oder decken sie zu, nachdem sie eingeschlafen sind."
Fassungslos über meine eigene, kleine Ansprache sah ich zu Finnig. Dieser hatte den Kopf leicht schräg gelegt und sah mich aus nachdenklichen, blauen Augen an. Ich fühlte augenblicklich, wie ich unruhiger wurde, weil ich nicht wusste, wie er reagieren würde. Eines hatte ich der kuren Zeit nämlich über ihn gelernt: Nichts, was dieser Mann tat, war vorhersehbar.
"Ich verstehe nicht wirklich wo das Problem liegt, Clara?", gab er nach einer ewiglangen Sekunde der Stille von sich.
Sie sind das Problem, hätte ich am liebsten an den Kopf geworfen, doch meine Vernunft war dieses Mal größer. Anstelle dessen sprach ich etwas aus, das mir nicht weniger Sorgen bereitete. "Wenn uns jemand sehen sollte ... in der Gerüchteküche würde sofort Hochbetrieb herrschen." Meinen Blick hatte ich gesenkt, aus Angst, mein Körper könnte wieder Verrat an mir vergehen. Wenn ich nur daran dachte was das für Gerüchte sein könnten ...
"Beantworten Sie mir bitte zwei Fragen, Clara." Finnig fand meine Sorge alles andere als amüsant, denn er klang so ernst wie ich es nur aus dem Unterricht kannte.
"Habe ich Sie jemals auf irgendeine Art und Weise unsittlich angefasst?" Um genau zu sein, hatte er mich gar nicht angefasst. Nicht einmal versehentlich berührt hatte er mich. Und erst recht nicht bewusst.
Ich schüttelte den Kopf. "Nein.""Und Ihnen irgendwelche Avancen gemacht?"
Hatte er? Es fiel mir schwer, diese Frage zu beantworten, da ich es nicht wusste. Auch, wenn da irgendwelche Zeichen gewesen wären, ich wäre nicht in der Lage gewesen, sie zu deuten."Auch nicht."
"Warum suchen Sie dann nach einem Problem, obwohl es doch gar keines gibt?"
Überrascht sah ich auf. Ja, warum eigentlich? Weil er es war? Kilian Finnig, ein Lehrer? Mein Lehrer?Seine Worte lösten etwas in mir aus. Mir war nicht bewusst was genau es war, aber es erlaubte mir einen lockereren, nicht mehr ganz so steifen Umgang mit ihm. Wir sprachen über die Bücher, die ich gekauft hatte und über die Kunst, die ihn als auch mich so leidenschaftlich begeisterte. Für einen ganz kurzen Moment vergaß ich sogar, wen ich vor mir sitzen hatte. Und das, obwohl er nicht einmal die Höflichkeitsform ablegte. Als die Sonne sich schließlich langsam senkte und den See in ihr geheimnisvolles Licht tauchte, bezahlte Finnig für uns beide und wir verließen das Café. Wäre es nach mir gegangen, hätte er niemals für mich bezahlen dürfen, war das immerhin keine Verabredung! Aber es war leider nicht nach mir gegangen und so musste ich es wohl oder übel hinnehmen. Ebenso wie ich hinnehmen musste, dass er mich zum Bahnhof begleitete. Müsste er nicht noch in der Stadt bleiben, er hätte mir angeboten, mit ihm zu fahren, war es immerhin dergleiche Weg - so seine Worte.
"Treffen Sie sich noch einmal mit Isabell?", fragte ich und erst nachdem die Worte draußen waren, fiel mir auf, dass ich keine unangebrachtere Frage hätte stellen können. Ich wusste ja nicht einmal in welcher Beziehung die beiden zueinander standen! Sie könnte seine Freundin sein; höchstwahrscheinlich war sie es sogar.
Finnig aber belächelte meine entgleisten Gesichtszüge nur und bejahte.
"Wir haben ausgemacht, uns zu treffen, sobald sie -" Er hielt inne, hatte sich anscheinend dazu entschieden, nicht weiter zu sprechen, da es nicht für meine Ohren gedacht war.
Trotzdem konnte ich nicht anders als zu fragen. Ich konnte nicht ignorieren was ich im New Yorker aufgeschnappt hatte. Zwar konnte ich mir nicht sicher sein, aber ich glaubte zu wissen was los war."Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber kann es sein, dass Isabell krank ist?"
"Sie haben Recht, es geht Sie tatsächlich nichts an", erwiderte er in einem distanziertem Tonfall, der mir eines klar machte: Ich hatte soeben den Jackpot der Fragen, die man unter keinen Umständen stellte, geknackt.
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In deinen Händen
RomanceEine Party. Eine Nacht. Clara wacht eines Morgens in einem fremden Bett auf, neben ihr ein ihr unbekannter Mann. Von ihrem eigenen Verhalten schockiert, verschwindet sie ohne zu erfahren, mit wem sie geschlafen hat. Ihr Fehltritt löst eine Welle aus...