11 - Finnigs Sicht

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 „Mach doch mal eine Pause, Kilian", riss mich eine Stimme aus meiner Konzentration, die zuvor noch voll und ganz der Mathearbeit eines Siebtklässlers gegolten hatte. Mein Blick wanderte zu der nun geöffneten Tür. Isabell stand im Türrahmen, mit der Schulter dagegen gelehnt, und die blauen Augen direkt auf mich gerichtet. Ich erwiderte ihren Blick, nur für einen kurzen Moment, dann wich ich ihm aus. So sehr ich es auch versuchte, ich war nicht in der Lage, sie so zu sehen. So schwach und verletzlich. Seit sie vor wenigen Wochen mit der Chemotherapie begonnen hatte, hatte sie merklich an Gewicht verloren, ihr Gesicht war ungesund blass, tiefe, dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen gebildet und ihre Wangenknochen stachen deutlicher hervor als je zuvor. Und doch lächelte sie, als wären diese Veränderungen von keiner großen Bedeutung.

„Ich arbeite gerne; ich brauche keine Pausen." Die Arbeit lenkte mich ab. Von Isabells Krankheit und, so ungern ich es zugab, von Clara. Seit dem Tag, an dem ich sie nach Hause gefahren hatte, hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Weder in der Schule noch außerhalb dieser. Sie schien mit den Gedanken in letzter Zeit immer wo anders zu sein und in mir hatte sich hartnäckig das Gefühl festgesetzt, sie würde mir bewusst aus dem Weg gehen – die Distanz wahren. Vielleicht war das sogar besser so, dann konnte ich mich endlich auf die Dinge konzentrieren, die im Moment wichtiger waren. Isabell und Lina zum Beispiel.

„Irre ich mich oder habe ich dich nicht eigentlich zur Bettruhe verdonnert?"

Isabell verdrehte die Augen; das tat sie immer, wenn ich sie ihrer Aussage nach bevormundete, was ich natürlich nicht tat. Ich sorgte mich nur um sie und der Arzt hatte immerhin Bettruhe verordnet, solange sie sich nicht besser fühlte.

„Ich läge jetzt noch auf dem Sofa, wenn Martha nicht angerufen hätte." Ich brauchte nicht in ihre Augen zu sehen, um den vorwurfsvollen Ausdruck in ihnen zu erkennen. Ihr Tonfall hatte sie bereits verraten. Warum um Himmels Willen rief meine Mutter Isabell an? Sie wusste doch nur allzu gut, dass das keine gute Idee war. Es wäre nicht untertrieben, wenn ich sogar behaupten würde, es sei die schlechteste aller Ideen.

„Was wollte sie?", fragte ich vorsichtig, nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt wissen wollte.

„Sie fragte, ob es in Ordnung wäre, wenn sie ein paar Tage früher kommen würde. Du hättest mir sagen müssen, dass sie vorhat, zu kommen!"

Verdammt, daran hätte ich denken müssen. Spätestens dann, wenn meine Mutter vor der Haustür gestanden hätte, wäre ich mit diesem „Gespräch" konfrontiert worden.

„Ich wollte nicht, dass du dich unnötig aufregst." Was für eine schwache Begründung. Insgeheim hatte ich mich vor Isabells Reaktion gefürchtet. Sie hätte nie und nimmer zugelassen, dass meine Mutter uns ein wenig unter die Arme griff. Ihre nächsten Worte bestätigten meine Vermutung nur noch.

„Sie hasst mich, Kilian!" Sie trat ins Zimmer, das ich kurzerhand zu meinem Arbeitszimmer umgebaut hatte, solange ich hier lebte, und fasste sich an den Kopf. Einen ganz kurzen Moment ruhte ihre Hand am Saum der Kapuze ihres Pullovers, dann ließ sie sie mit einem frustrierten Seufzen sinken. Sie hatte sich der Gewohnheit wegen durchs Haar fahren wollen, doch seit einiger Zeit waren da keine mehr.

„Das stimmt nicht. Sie hasst dich nicht", erwiderte ich ruhig. Wir beiden wussten jedoch, dass das nicht ganz die Wahrheit war.

„Netter Versuch, Kilian, aber wir beide wissen es doch besser." Isabell ging durchs Zimmer und setzt sich auf das schwarze Sofa, das in der Ecke stand. Das Stehen hatte sie sichtlich ermüdet.

„Deine Mutter hasst mich seit dem Tag, an dem ich dir ein Kind angedreht habe und du mir das Haus deines Großvaters überlassen hast."

„Du hast mir Lina nicht angedreht. Sie ist auch meine Tochter!" Isabell sollte nicht einmal in die Nähe solcher Gedanken kommen!

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