Der Morgen danach

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Kaum hatte Sascha mich erblickt, zog sie mich in eine feste Umarmung und begann, die Worte wasserfallartig hinunter zu rasseln.

„Man, Clara! Da bist du ja! Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe. Verschwindest einfach und lässt nichts von dir hören. Und dann sagt Ben noch, dass ich dich morgen – also heute – selbst fragen soll, weil -."

„Weil ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt habe. Ich weiß", beendete ich ihren Satz. Bei der Erinnerung daran verzog sich mein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske. Nach dem gestrigen Tag hatte ich mir geschworen, nie wieder auch nur in die Nähe von Alkohol zu kommen. Nie, nie, nie wieder!

„Geht's dir denn schon besser?" Sie löste sich von mir und musterte mich mit besorgter Miene. Meine beste Freundin gab sich die Schuld daran, da war ich sicher, denn immerhin war es ihre Idee gewesen, in die Discothek zu gehen.

„Um einiges besser", meinte ich mit einem dünnen Lächeln und hakte mich bei ihr unter. „Es würde mir allerdings noch besser gehen, wenn du mir erzählst, was Samstagabend passiert ist. Das Letzte, an das ich mich nämlich erinnere, ist, wie du und ich uns auf den Weg zur Dicso gemacht haben. "

„Du hattest einen Filmriss?", stieß Sascha sichtlich überrascht und lauter als mir lieb war aus. Einige Schüler, die nicht weit von uns standen, drehten bereits die Köpfe in unsere Richtung. Es war mir unangenehm, dass jemand erfahren könnte, was passiert war. Vor allem die Sache mit dem One-Night-Stand. Sascha müsste ich wohl oder übel aber davon erzählen. Ich musste es jemanden erzählen, wer also war da passender geeignet als die beste Freundin?

„Warum stellst du dich nicht gleich mit einem Megaphon vor die Leute und verkündest die erstaunliche Neuigkeit?" Ich stieß ihr freundschaftlich in die Seite.

„Sorry, Clara", meinte sie in einem versöhnlichen Ton und dann: „Erinnerst du dich wirklich an nichts mehr?"
Ein Kopfschütteln folgte von meiner Seite aus. Und bevor eine von uns hätte etwas sagen können, gongte es zur ersten Stunde.

„Verdammt, in der ersten Stunde haben wir Karg. Die lässt mich nachsitzen, wenn ich wieder zu spät komme!" Von einem Moment auf den anderen hatte Sascha es eilig, in die Schule zu kommen.

„Auf was wartest du dann?", fragte ich mit einem Schmunzeln und zog sie mit mir Richtung Eingang Schule. Ich selbst hatte es nicht annähernd so eilig wie sie; Herr Finnig kam meist selbst wenige Minuten zu spät. Da fiel es also nicht auf, wenn man ebenfalls nicht pünktlich kam.

Obwohl es für Anfang November erstaunlich warm und windstill war, war ich doch froh, als wir in der deutlich wärmeren Eingangshalle der Schule ankamen. Sascha und ich verabschiedeten uns voneinander und jede von uns trat ihren Weg zum Klassenzimmer an. Seit ich die achte Klasse hatte wiederholen müssen, gingen wir zu meinem Leidwesen in verschiedene Klassen. Sie würde dieses Jahr ihr Abitur machen; ich hingegen stand erst am Anfang der Oberstufe.

Fast zeitgleich mit dem Gong betrat ich schließlich mein Klassenzimmer. Zu meiner Verwunderung war Herr Finnig bereits da. Er saß am Lehrerpult und kritzelte dem Anschein nach irgendetwas auf ein Blatt Papier. Unbemerkt huschte ich deshalb schnell auf meinen Platz in der letzten Reihe am Fenster. Mein Rucksack landete auf dem Stuhl neben mir, da ich alleine saß. Als ich vor drei Jahren in diese Klasse kam, hatte jeder bereits seinen festen Sitznachbarn gehabt und ich als Nummer 23 hatte einfach Pech gehabt. Oder Glück. Das war wohl Ansichtssache. Denn eigentlich saß ich gerne alleine; hin und wieder aber vermisste ich fast schmerzlich Sascha, wenn der Unterricht vor Langeweile kaum auszuhalten war.

„Clara, Sie setzten sich bitte neben Simon in die erste Reihe."
Aufmerksam geworden durch die Nennung meines Namens, sah ich auf. Herr Finnig stand neben dem Lehrerpult, ein Blatt in der Hand haltend. Und erst etwas verspätet drang in mein Bewusstsein, was er zu mir gesagt hatte. Allerdings wurde ich nicht wirklich schlau daraus.

„Und Sie, Markus, setzten sich zu Maria", fuhr er anschließend fort. Das ging eine ganze Weile so weiter, bis er den Zettel beiseite legte und wieder in die Runde sah. Mir war noch immer nicht ganz klar, was die spontane Umsetztaktion sollte und leider war es mir nicht möglich, jemanden zu fragen, ohne, dass es gleich die ganze Klasse mitbekam.

„Setzten Sie sich bitte um, damit wir mit dem Unterricht anfangen können." Sein blick streifte erwartungsvoll durch die Reihen, doch nichts besser gesagt niemand machte Anstalten, seinen Platz zu verlassen.

„Das ist doch Blödsinn!" Es war Markus, der die angespannte Stille mit seinem Ausruf durchbrach. „Warum sollen wir bitteschön unsere Plätze tauschen?"
Maria stimmte ihm zu.

„Er hat recht, außerdem ist das ziemlich mies von Ihnen, Ihre Schüler auf diese Weise bloßzustellen." Zwar wusste ich noch immer nicht um was es ging, aber ich fand Marias Mut, so mit Herr Finnig zu reden, mehr als beeindruckend. Ehrlich gesagt hätte ich ihr das nicht zugetraut.

„Als wüssten Sie nicht, wie es um die Noten in der Klasse steht." Eine wegwerfende Geste begleitete Herr Finnigs Worte. Er wirkte heute ungewohnt ungeduldig und genervt. "Und jetzt tun Sie mir den Gefallen und setzten sich um. Es wird Ihnen allen gut tun, mal neben jemand anderem zu sitzen."

Darauf traute sich keiner, etwas zu erwidern. Stattdessen war das Geräusch von sich schließenden Mäppchen und Heften zu hören, die zurück in die Tasche geschoben wurden. Da ich noch nicht einmal dazugekommen war, meine Sachen auszupacken, brauchte ich nur aufzustehen.
Keine drei Minuten später herrschte wieder Stille; keiner schien darauf erpicht zu sein, sich mit Herr Finnig anzulegen. So schlecht gelaunt wie der heute war, war das nur allzu verständlich. Die restlichen zwei Stunden war es von der Geräuschekulisse nicht viel anders. Normalerweise hörte man einige Schüler wenigstens miteinander flüstern, doch heute herrschte eine geradezu eisige Stille.

„Clara, wissen Sie, wie wir bei dieser Aufgabe am besten vorgehen?", riss mich Herr Finnig ein zweites Mal an diesem Tag aus meinen Gedanken. Ich hatte überlegt, was es mit der Aktion auf sich hatte, bis ich bemerkte, dass unser Mathematiklehrer je einen schlechten Schüler in seinem Fach neben einen Schüler, der gut darin war, gesetzt hatte. Damit wäre auch geklärt, was Maria mit dem Bloßstellen gemeint hatte. Das war tatsächlich mies von ihm!

„Mit einer Integralrechnung?", verließen die Worte unsicher und mehr als Frage als Aussage meinen Mund. Mein Blick hatte das Schaubild am Whiteboard entdeckt, doch ich hatte keine Ahnung, was die genaue Aufgabenstellung war. Allerdings nahm ich an, dass es darum ging, den Flächeninhalt des abgegrenzten Dreiecks auszurechnen.

„Und was genau ist zu tun?", harkte er nach und fixierte mit seinen hellblauen Augen meinen Blick. Es behagte mir nicht, dass er mir mit etwa eineinhalb Metern Abstand so nahe war. Ich war es einfach nicht gewohnt, so weit vorne, direkt vor dem Lehrerpult zu sitzen. Deshalb wandte ich meinen Blick ab, als ich schließlich mit einem "Keine Ahnung" antworte.

"Und gerade aus diesem Grund sitzen Sie hier vorne", erwiderte er und obwohl es nicht bösartig klang, fühlte ich mich trotzdem perönlich angegriffen. In den hinteren Reihen wurde gekichert und am liebsten wäre ich auf meinem Stuhl soweit runtergerutscht, dass mich keiner mehr hätte sehen können.

"Schadenfreude hilft leider nicht weiter. Der Großteil von Ihnen ist nämlich nicht besser", wies Herr Finnig die Unruhestifter zurecht und sofort verstummten sie.
Wahrscheinlich hätte ich mich besser fühlen sollen, weil ich nicht die einzige Idiotin war, was Mathe betraf, aber dem war nicht so.
Die restliche Stunde verlief wieder in trostlosem Schweigen. Herr Finnig rief mich zu meiner Erleichterung nicht ein weiteres Mal auf. 

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