I. Schlafen

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Ich muss 15 gewesen sein, als ich das letzte Mal geschlafen habe. Ich war noch ein Kind und doch wusste ich, was passiert war.

Es ist nicht so, dass ich nie zur Ruhe gekommen bin, ich habe in meinem Bett gelegen und meine Augen geschlossen, ich habe geträumt, aber ich habe nicht geschlafen. Mit dem Schlaf kommen die Erinnerungen und ich will vergessen.

Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn alles anders gewesen wäre. Ich glaube nicht, dass es besser gewesen wäre, aber es wäre bestimmt anders gewesen.

Nachts kommen die Gedanken zurück, aber wenn ich dann am Morgen wieder zur Arbeit gehe, gibt es kein „Was wäre, wenn", da gibt es nur die kalte Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, in der ich wie eine kalte Puppe erscheine, kein einziges Wort aus meinem Mund ist dann nicht genau abgewogen. Ich gebe es zu, die Jahre haben mich berechnend gemacht, hart und kalt. Ich habe Schutzwälle um meine Seele und um mein Herz gebaut. Mich vor den Blicken anderer gesichert.

Ich weiß, dass jeder hier in London, dem ich je über den Weg gelaufen bin, mich für steif und kalt hält; manchmal nennt man mich Eiskönigin, ich bin nicht sicher, ob man das als Beleidigung sehen kann.

Vielleicht ist es ironisch, dass ich in der Pathologie des St. Barth's Hospitals arbeite, bei Toten. Ich liebe den Tod und er liebt mich, schon zu oft hat er mich besucht, an einem Ort wie diesem geht für einen wie mich richtig die Post ab. Eine Leiche ist immer etwas Besonderes, sie hat einen Namen, eine Geschichte und ein Leben, das hinter ihr liegt. Es ist auch eine gewisse Ruhe damit verbunden, eine Leiche läuft nicht weg. Lächerlich, nicht?

Wäre da nicht ein gewisser Sherlock Holmes gewesen, der sich ständig in meine Arbeit eingemischt hat. Ich kann die vielen Male nicht zählen, in denen Molly ihm Leichenteile gegeben hat, ich verbat es ihr, aber sie hat es trotzdem getan, ich habe es geduldet, weil sie verliebt war und Liebe einen die dümmsten Dinge tun lässt.

Nachts, wenn es im Barth's dunkel wird und alle Lichter ausgehen, wenn alle schlafen, kann ich richtig arbeiten, ich kann mich auf jeden Einzelnen konzentrieren, aber so war es auch schon während meines Studiums gewesen, nachts, wenn alles schläft, bin ich wach.

„Na, was war wohl in deinem Leben schlecht?" Vor mir lag aufgeschnitten die Leiche eines Mannes, er war vermutlich vergiftet worden, und ich sollte herausfinden womit. Ich fragte mich, warum es der großartige Sherlock Holmes noch nicht wusste, aber manchmal war auch er von mir abhängig und bei all den synthetischen Drogen verlor selbst ein Genie wie er den Durchblick, zumal der liebe Sherlock sich ausschließlich Heroin gespritzt hatte, die Einstiche waren über die Unterarme verteilt und meist unsichtbar für die Augen Fremder. Es war Zufall gewesen, dass ich sie gesehen hatte, aber ich hatte sie sofort erkannt, schließlich waren vor mir zu diesem Zeitpunkt schon einige Heroinjunkies gelegen.

Ich hatte Greg Lestrade niemals sagen können, dass er jeden verdammten Tag, über Monate hinweg high gewesen war. Ich hatte es bemerkt und geschwiegen. Für den Consulting Detektiv war ich ein Buch in dem offensichtlich Buchstaben standen, aber unlesbar, verschwommen, oder in einer fremden Sprache. Er konnte mich nicht durchschauen, es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, aber Deduktionen unmöglich, zu hoch die Mauern und zu dick um hinüber zu sehen. Manchmal ließ ich ihn ein erfundenes Ich sehen, das ganz normal und völlig gewöhnlich war.

Wie auch immer, die Leichen waren mir immer die liebsten, sie waren still und sie waren mir ausgeliefert. Ich war auch die Einzige, die keine Probleme hatte, Halbverwestes oder Verkohltes zu bearbeiten. Einmal hatte ich zu Anderson und Donovan gesagt, dass doch nichts über eine aufgedunsene Wasserleiche am Morgen ging, ich hatte danach meine Zigarette in die Themse geworfen und Donovan hatte ihren Kaffee, samt dem restlichen Frühstück, meiner Zigarette hinterhergekotzt.

Ein paar Untersuchungen und schnell war klar, woran er gestorben war. Der Jurastudent war an einer Überdosis Crystal Meth gestorben, aber er nahm es ich noch nicht zu lang, vielleicht ist er gleich beim ersten Mal draufgegangen. Dumme junge Menschen, die sich unbedingt aufputschen mussten, manche einfach nur, weil sie es geil fanden. Bei anderen war es der Perfektionismus der seinen Tribut forderte, die einen springen, die anderen nehmen Drogen, nur die Härtesten kommen durch.

Eigentlich könnte man meinen, mein Leben sei perfekt gewesen. Ich war die Tochter eines Regierungsangestellten, es hieß, er sei der mächtigste Mann Englands gewesen, vielleicht war er das auch. Er ließ jedenfalls keinen Tag aus um seine Macht zu demonstrieren, und meine Mutter, sie war sein liebes, kleines Frauchen, devot und speichelleckend. Perfekt für ihn, weil sie nie aufmuckste, und dann ich, die Krönung ihrer Liebe, vielleicht, aber nein, ich hätte ein Junge sein sollen, und die Stelle meines Vaters übernehmen, als Mädchen war ich nur das kleine Ding, das man wie einen Zirkusaffen zur Schau stellte und dem man hübsche Kleider anzog, wenn Gäste kamen.

Aber ich habe mich gewehrt, habe mich immer gegen alle Regeln aufgelehnt, nur die Regel, ein Instrument zu erlernen nahm ich mit einer fast obsessiven Leidenschaft wahr. Noch bevor ich lesen konnte, spielte ich fehlerfrei Klavier und mit Ende der siebten Klasse konnte ich auch, ja fast virtuos, Geige spielen. Der Star eines jeden Diners, die Frauen kniffen mir in die Wangen, schmerzhaft und unangenehm. Die Männer sahen mich bewundernd an, straften ihre Frauen mit Blicken die sagten, ‚Warum kann unser Kind das nicht?', oft wurde dann von ihren Kindern erzählt, wie gut der kleine Jack doch schon reiten kann, wie gut der kleine Miles sich mit Politik auskennt, wie schön die Töchter waren, wie gut sie sich benehmen konnten. Noch bevor ich etwas sagen konnte, wurde ich von meiner Kinderfrau geschnappt und ins Bett gebracht, die Angst frech zu werden, war zu groß und meine Aufgabe, die Gesellschaft zu erfreuen, war erfüllt.

Ich schlief nie, meist saß ich auf der Treppe und lauschte den Gesprächen der Männer, oft ging es um Politik, oder um das Weltgeschehen, dazwischen das Geschnatter der Frauen, die oft für fröhliche Lacher sorgten.

Ich habe es gehasst, das dumme Gerede dieser Leute, es ließ mir sowohl Galle als auch Tränen aufsteigen, innerlich sah ich mein Leben schon vor mir, eine Aneinanderreihung von Empfängen, Partys und wichtigen Reden, an denen ich teilhaben sollte als hübsches Anhängsel einer reichen und hoch angesehenen Familie. Dann änderte sich alles einfach so, und über Nacht hatte sich alles verändert.

Meinen 15. Geburtstag habe ich immer noch im Kopf. Mein Vater kam spät, meine Mutter noch später, ich war alleine gewesen, nur die Kinderfrau war da gewesen. Sie war immer da. Ich glaube, in den ersten Jahren hielt ich sie für meine Mutter.

Es war still. Als mein Vater kam, las ich in einem meiner neuen Bücher, als meine Mutter kam, war mein Vater betrunken und schlug meine Mutter, dann schrien sie, es ging um einen Mann, dann um eine Frau. Sie liebten sich nicht mehr, aber sich scheiden zu lassen war unmöglich, man musste das glückliche Paar mimen, ob man nun wollte oder nicht, war nicht relevant.

Ich schlief nicht in dieser Nacht, ich lag wach und lauschte den Schreien, den Schluchzern, den zuknallenden Türen und dann der Stille. Ich wischte die kindlichen Tränen von meinen Wangen. Die wenige Kindheit, die ich gehabt hatte, war nun endgültig vorbei und die Zeit war gekommen, um mein Dasein zu verändern. Noch eine kleine Weile und dann konnte ich alles hinter mir lassen und vergessen.

Doch Sherlock Holmes riss eine Türe in meinem Leben auf, die es nicht gegeben hatte, und er nahm meine Vergangenheit und meine Zukunft mit sich mit.

Mit den Jahren lernte ich zu schlafen, doch der Weg war unendlich lang und hart. 

The IcequeenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt