IV Schwermut

321 18 0
                                    

Ich saß in meinem Sessel und versuchte mit einem Glas Scotch den ekelhaften Geschmack loszuwerden. Ich war verletzt, verwundet und ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis Mycroft Holmes alles über mich wissen würde. Spätestens wenn der Fall gelöst wäre, oder Sherlock in Gefahr schweben würde, dann würde er alles über mich wissen wollen.

Ich atmete tief durch, es wurde Zeit meine Vergangenheit zu überschreiben. Ich wollte sie neu definieren, rückgängig machen war schließlich unmöglich.

Langsam stand ich auf und ging zu meinem PC, er war schrecklich langsam und ich drohte ihn fast wieder zu schließen. Doch dann erschien mein Desktop und ich begann ein Programm zu öffnen, das es mir ermöglichte, mein Leben, also die letzten fast zwanzig Jahre neu zu schreiben. Lückenlos ging jetzt meine frühe Kindheit in meine Zeit auf einem Deutschen Internat, von dem ich Zeugnisse gefälscht und Aufnahmebestätigungen selbst geschrieben hatte über. Danach kam gleich meine Zeit auf der medizinischen Fakultät in Rom.

Als ich fertig war, konnte ich gut und gerne von mir behaupten, ein unbeschriebenes Blatt zu sein.

Ich schloss den Computer wieder und setzte mich erneut vor den Kamin, eine seltsame Lehre ergriff von mir Besitz. Ich musste daran denken, warum ich keinen Freund hatte, warum ich mit fast 26 noch immer jungfräulich war, obwohl ich zweifelsohne hübsch war. Ich war selbst schuld, erst war es nur ein Spiel gewesen und dann wurde es bitterer Ernst. Ich habe geschworen nicht mehr darüber zu sprechen und ich hatte nicht vor, das Versprechen zu brechen.

Ich hörte es klopfen, wer wollte so spät denn noch etwas von mir? Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und ging dann zur Tür. Ein junger Mann stand vor mir, ich hatte ihn noch nie in meinem Leben gesehen, aber ich sah die Tätowierung an der Schulter und am Hals herausblitzen.

„Was hat das zu bedeuten?", knurrte ich, sofort war ich wieder in die Rolle der Frau gefallen, der damals alle nachgelaufen waren, die alle gewollt hatten.

„Señora Gracia. Ich soll Ihnen das hier bringen.", er überreichte mir eine kleine, schwarze Schachtel mit silberner Schleife.

„Geh und sag deinen Leuten, sie sollen nicht mehr herkommen, ich habe mich aus den Geschäften zurückgezogen.", sagte ich. Die Türe fiel krachend ins Schloss. Erlösende Stille.

Als er weg war, stellte ich die Schachtel auf dem Tisch, ich ging zum Plattenspieler und ließ Bob Dylan laufen. Ich drehte mich sanft zu den Klängen meines Lieblingsliedes und schloss die Augen.

Vor mir erschien eine mir nur zu gut bekannte Szene, Italien, die Zeit, in der ich glücklich war. Losgelöst von all den schlechten Dingen. Ich trug ein kurzes weißes Sommerkleid, das ich in Neapel gekauft hatte. In meinem schwarzen Haar steckte eine rote Blume. Ich wusste nicht, wie sie hieß, aber sie zu treffen war eine Fügung des Schicksals, ein schlechte, wie ich bald feststellen musste. Eine junge Frau in meinem Alter. Sie hatte eine unglaubliche Ausstrahlung und sie stellte mich Viktor und seinen Brüdern vor. Ich glaube, ich war das erste Mal in einen Mann verliebt, den ich auch haben konnte. Emil machte mir über Wochen hinweg den Hof und Stück für Stück wollte ich ihm immer näher sein, doch seine Schwester, die Frau, die mich mit ihnen bekannt gemacht hatte, war gegen uns.

Sie stritten deshalb so unendlich oft, dass ich fast gewillt war, Emil zu verlassen, aber so weit sollte es niemals kommen.

Es war ein lauer Sommerabend und die Luft drückte, alle warteten auf das Gewitter, welches uns erlösen würde. Gianna wurde erschossen. Emil hat sie getötet und ihre Leiche in einer Lagune verschwinden lassen. Ich hatte Angst vor ihm, vor seiner Familie, die den Mord einfach so hinnahm, aber Emil und Viktor machten mich zu ihrem Chef, ließen sich von mir, wie zuvor von Gianna, Befehle geben. Im Nachhinein gesehen frage ich mich, warum ich sie nicht durchschaut habe, warum ich nie erkannt habe, dass sie mich nur benutzten. Aber ich war jung, naiv und ich hatte Angst.

Ich löste mich von den Erinnerungen, sie waren zu schmerzhaft. Vielleicht, schaffe ich es irgendwann von ihnen loszukommen, von dem Leid, das danach kam, dachte ich und schüttelte über mich selbst den Kopf. Kurz musste ich lächeln, ein kaltes, hartes Lächeln, das mich nur meiner eigenen Dummheit schalt.

Als ich mich ins Bett legen wollte, blieb ich noch einmal in der Küche stehen, ich blickte wieder zu der kleinen Box, ich war zu neugierig um sie noch länger stehen zu lassen. Langsam und mit zittrigen Fingern öffnete ich die Schleife und wischte sie mit den Fingern vom Deckel. Ich nahm den Deckel ab und ließ ihn sofort wieder fallen, so erschrocken war ich. Erst einige Sekunden später öffnete ich den Deckel erneut. Schwer schluckend, aber gefasster.

Da lag eine Hand, eine weiße Hand, männlich, ich schluckte. Da lag ein Zettel, in roter Farbe, mit Sicherheit das Blut des Mannes und ein Dienstausweis in der Box. Emil hatte wieder jemanden getötet. Ich versuchte mich zu beruhigen, ich zog den Ausweis heraus. Er gehörte, oder hatte einem Mister Blake gehört, der bei einem Mycroft Holmes angestellt war. Scheiße...

Er hatte mich also überwachen lassen, aber vermutlich hatte er keine Informationen über mich bekommen und dann einen Agenten auf mich angesetzt, weil Greg und Sherlock zu wenig von mir wussten.

Womöglich tat er das schon seit Wochen und heute, als er mich zur weißen Villa verfolgt hatte. War er Emil und somit dem Tod in die Arme gelaufen? Eine kalte Fassung legte sich über mich. Warum hatte dieser Mann sterben müsse? Weil er die Señora verfolgt hatte und drohte die Organisation zu gefährden?

Ich nahm den Zettel heraus und las ihn durch:

Liebste Gracia,

Die kleine Ratte hat dich verfolgt, schon seit Tagen, aber keine Sorge, er hat keine Informationen weitergegeben.

Ich weiß, du wolltest nicht, dass es noch mehr Tote gibt, aber ich konnte dich nicht gefährden und auch uns nicht.

Die Leiche ist für immer fort und niemand wird sie finden, auch Sherlock Holmes nicht.

Emil

Ich ließ den Zettel fallen. Mein Hirn ging strategisch alle Möglichkeiten durch und immer wieder kam ich zu einem Schluss. Wenn ich wollte, dass die Vergangenheit endete, musste entweder ich oder die Vergangenheit weichen. Ich atmete schwer durch. Dann zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte eine bekannte Nummer.

„Greg? Kannst du herkommen?", eine dunkle, verschlafene Stimme murmelte ein Ja in den Sprecher und dann legte er auf. 

The IcequeenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt