Kapitel 4

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Ich fiel nicht lange. Das Licht kehrte zurück, ich befand mich wieder in einer Lichtsäule. Diese allerdings schoss aus dem Boden. Als sie wieder darin verschwand, sah ich mich um. Ich stand in einem grauen, dunklen Raum, mit gerade mal einem kleinen Fenster unter der niedrigen Decke. Ein Bett und ein Schrank standen darin und ein kleiner Tisch mit einem wackligen Stuhl dazu.
Die Lichtsäule war aus einem roten, fünfzackigen Stern geschossen. Der selbe Stern wie im Schloß. Hier standen allerdings noch dunkelrote Kerzen drumherum, die das erschrockene Gesicht eines blassen Jungen beleuchteten. Er saß vor der untersten Spitze des Sterns und starrte mich angstvoll aus roten Augen an. Er strich sich eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht (an seinem Handgelenk war eine frische Wunde) und versuchte offensichtlich das Zittern seines Körpers unter Kontrolle zu bringen. Der Junge hatte zwar rote Augen, aber er war ganz offensichtlich ein Mensch, ein Albino. Zudem lebte er, ich war also nicht mehr in der Hölle.
"Wie heißt du?", fragte ich ihn sanft. Er fing sich und rappelte sich auf. Er war größer als erwartet.
"Mein Name geht dich nichts an, Lilith."
Ich stutzte. Woher kannte er meinen Namen?
"Und wieso nicht? Du kennst doch auch meinen, wäre es da nicht fair mir auch deinen Namen zu verraten?"
Ich lächelte ihn an. Hoffentlich vertraute er mir dann. Trotzig verschränkte er die Arme und blieb dabei. Mein Lächeln erstarb.
"Dann eben nicht. Was willst du?"
Er grinste teuflisch.
"Ich will, dass du mir hilfst!"
Ich zog eine Augenbraue hoch und fragte ihn seufzend:
"Und wobei?"
Seine Augen nahmen einen seltsamen Glanz an. Er sah ein bisschen aus wie Luzifer, wenn dieser mal wieder größenwahnsinnig wurde.
"Du sollst mir helfen, mich zu rächen. An denjenigen, die mir Leid zugefügt haben."
Das klang wirklich stark nach Luzifer.
"Sie nennen mich Teufels-Sohn", flüsterte er. Bei den Menschen war das wohl eine Beleidigung. Bei gläubigen zumindest. Ich guckte ihn an. Eigentlich müsste ich Mitleid mit ihm haben. Aber irgendwie... War da keines. Erst hatte ich zu viel Mitleid und dann gar keines. Was bitte war mit mir los?!
Ich hielt etwas in meiner Hand. Irgendwas weiches. Ich öffnete sie und entdeckte die beiden Federn, die ich meinem Freund genommen hatte. Ob die irgendwas damit zu tun hatten..? Bestimmt.
"Hilfst du mir?", fragte der Junge ungeduldig, "Wenn nicht, schicke ich dich wieder zurück!"
Ach ja? Na, egal. Ich würde ihm helfen.
"Natürlich helfe ich dir", flötete ich süffisant.
"Was genau soll ich tun?"

Endlich. Endlich hatte ich es geschafft! Ich war wieder da! Fröhlich lief ich durch die kleine Stadt und konnte nach fast 200.000 Jahren endlich wieder die Sterne und den Mond sehen. Selbstverständlich hatte ich mich angepasst: ein hellblaues T-shirt, eine kurze Jeans und natürlich keine Flügel. Meine Haare hatte ich zusammengebunden. Neben mir lief der Junge, dem ich das zu verdanken hatte und grinste noch immer diabolisch. Ernsthaft, er hätte als Luzifer durchgehen können, hätte er schwarze Haare gehabt. Ob er..? Nein, ging ja gar nicht.
Ich verwarf den Gedanken und hielt ihm eine der schwarzen Federn vor die Nase.
"Die Feder ist von Luzifer, wenn du mir deinen Namen verrätst, kriegst du sie."
Das ich noch eine hatte verriet ich ihm nicht. Mit großen Augen starrte er die Feder an und hauchte:
"Echt jetzt?"
Ich nickte, auch wenn er das wahrscheinlich nicht sah. Es war hier schließlich mitten in der Nacht und stockdunkel. Nervös leckte er sich die Lippen und überlegte.
"Na schön", sagte er schließlich, "Ich heiße Finnian."
Damit schnappte er sich die Feder. Ich musterte ihn, ich konnte sehen wenn jemand log. Er sagte die Wahrheit, gut so. Finnian also.
Irgendwie hatte ich die menschliche Seite meinerselbst verdrängt und mit ihr meine Sorge um die Menschen. Ich bekam richtig Lust, an jemandem meine Kräfte zu testen. Ich wusste ja gar nicht was ich alles konnte, wie denn auch?
"Da vorne."
Finnian zeigte auf eine Gruppe Menschen, zwischen 14 und 16, sein Alter wahrscheinlich. Sie hatten sich in einer der dunklen Gassen versammelt und schienen nach etwas oder jemandem zu suchen.
"Die sind auf meiner Schule. Jede Nacht stehen die hier und warten auf ihre Opfer", erklärte Finnian mir verbittert.
"Und woher weißt du das?", fragte ich ihn, "Solltest du um diese Zeit nicht längst schlafen?"
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu, was ja ziemlich gewagt war, wenn mal bedenkt, dass ich ihn mit einer einzigen Handbewegung hätte töten können. Dann erklärte er:
"Ich bin meist immer so spät draußen, meine Eltern interessiert das nicht. Sie mögen mich ungefähr so viel wie die Pest. Deshalb lebe ich ja auch im Keller. Niemand kann mich leiden, nicht mal meine Lehrer."
Dann verstummte er und führte mich in dunkle Schatten, raus aus dem Sichtfeld der Gruppe Schüler, die dort lauerten. Dann war der Raum, in dem ich hergekommen war, also sein Zimmer gewesen, bemerkte ich resigniert. Von Mitleid immer noch keine Spur.
"Und um dich an all denen zu rächen, hast du mich beschworen? Ist das nicht etwas übertrieben?"
Nicht das ich was dagegen gehabt hätte. Er grinste wieder.
"Ich löse meine Probleme auf meine eigene Art und Weise. Speziell, spektakulär, übertrieben... Nenn es wie du willst."
Ich begann diesen Jungen immer mehr zu mögen. Echt jetzt.
"Na schön!"
Er schlug mit der Faust in seine flache Hand, wild entschlossen seinen gewagten Racheplan endlich in die Tat umzusetzen. Finnian guckte mir fest in die Augen. Seine glühten richtig. Das lag bestimmt an Luzifers Feder.
"Los, du weißt, was du zu tun hast!"
Ich musste unwillkürlich lächeln.
"Natürlich."

Grellrote und -gelbe Blitze zuckten vor seinem inneren Augen. Finnian sank mit schmerzverzerten Gesicht auf die Knie und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Sie würden ihn hören und dann wäre der Überraschungsefekt dahin. Das konnte er nicht zulassen. Tränen stiegen ihm in die Augen, diese Schmerzen waren unerträglich!
"Hör auf Lilith! Mach das die Schmerzen aufhören!", bat er sie keuchend. Lilith lachte nur.
"Du wirst dafür ja wohl ein paar Schmerzen in Kauf nehmen, oder?"
Sie hatte recht, er nickte schwach.
"Gleich geschafft!", flötete sie.
Die Stimme hörte er in seinem Hinterkopf.
"Ich habe noch nie eine Körperübernahme gemacht, ich wusste gar nicht, dass ich das kann!"
Lilith kicherte, dann fügte sie ernster hinzu:
"Ohne die Feder wärst du wahrscheinlich tot."
Er wollte sie etwas fragen, als ein schwarzer Blitz durch sein Sichtfeld zuckte und eine ebenso tiefe Schwärze hinterließ. Schwer atmend hockte er dann sekundenlang einfach nur da und versuchte wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Der Schmerz hatte nachgelassen und verschwand schließlich ganz, als Finnian sich wieder aufrichtete und sich umsah. Der Dämon war verschwunden.
"Na los, fang an!", hörte er sie dann in seinem Hinterkopf sagen.
"Wie... aktiviere ich die Fähigkeiten?"
"Denk einfach dran, vielleicht funktioniert es."
"Vielleicht?"
"Ja, vielleicht! Ich hab doch keine Ahnung, wie ich das immer mache! Es passiert halt wenn ich's will."
Lilith klang verärgert. Finnian seufzte ergeben.
"Wird schon schief gehen."
Er lugte hinter der Ecke hervor. Dank Lilith konnte er nun sehr viel besser sehen und hören. "...vorbeikommt, schnappen wir ihn uns."
"Wir müssen ihm ja den Teufel austreiben! Wir meinen es nur gut mit ihm."
Die Schüler lachten hämisch und Finnian kniff wütend die Augen zusammen.
"Hast du das gehört?", zischte er.
"Selbstverständlich, ich nehme alles wahr, was du wahrnimmst. Du brauchst übrigens nicht zu reden um mit mir zu sprechen, es reicht, wenn du es denkst."
Cool.
Er kam hinter der Ecke hervor und lief zielstrebig auf die fünf zu.
Die können dich aber nicht hören, oder?
Sie lachte.
"Natürlich nicht!"
"Da ist ja der Teufels-Sohn!", rief ein Junge und die anderen wandten die Köpfe.
"Wir haben gerade von dir gesprochen."
"Wenn man vom Teufel spricht, wie es so treffend heißt."
Sie kicherten. Finnian blieb unweit von ihnen mit verschränkten Armen stehen, inmitten eines Mondstrahles.
"Wie dramatisch!", kicherte Lilith.
"Vorsicht Leute, er hat den bösen Blick!", grinste ein Mädchen und kam auf ihn zu. Die anderen vier folgten ihr.
Gibt es den bösen Blick?
"Keine Ahnung", kam die Antwort.
"Wie treiben wir den Teufel denn heute aus?", fragte das zweite Mädchen der Gruppe und schlug sich mit der Faust in die flache Hand.
"So vielleicht?", fragte ein Junge und ließ seine Faust in Richtung Finnians Gesicht schnellen. Doch der Attackierte war schneller. Er fing die Faust mit der Hand ab, drehte sie herum und brach dem Angreifer den Arm. Der sprang mit einem Schmerzensschrei zurück, wie ein getretener Hund und starrte Finnian fassungslos an. Auch die anderen stierten ihn an und wichen zurück.
"Was ist denn mit dir los? Hast du 'nen Bund mit dem Teufel geschlossen oder was?"
Nervöses Lachen. Der Gefragte grinste.
"Nicht direkt, nein."
Flammen schossen aus seinen Händen, verbrannten ihn aber nicht.
Es funktioniert tatsächlich!
"Konzentrier dich!", warnte Lilith. Mit einem irren Grinsen im Gesicht ging er langsam auf seine hilflosen Opfer zu, drängte sie an die Wand. Nun probierte er es mit Flügeln, um sie noch mehr einzuschüchtern. Auch das funktionierte problemlos. Dunkelrot waren sie, ähnlich wie Drachenflügel, allerdings knochiger und zerfetzt.
Lilith kicherte wieder, sie genoss den Anblick der verängstigten, fassungslosen Menschen vor sich.
"Jetzt seid ihr fällig!", zischte er leise mit hocherhobenem Kinn und diesem irren Gesichtsausdruck.
"Bitte tu uns nichts!", flehte einer von ihnen. Ein anderer nickte bekräftigend.
"Wir hören auch auf, glaub uns!"
"Kein Wort zu niemandem von deinen... Fähigkeiten, echt!"
Ein mitleidiges Lächeln schlich sich auf Finnians Gesicht und er schüttelte bedauernd den Kopf. All das Flehen würde ihnen nichts mehr nützen. Denn für diese fünf (und viele weitere Menschen) krähte in dieser Nacht der rote Hahn.

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