Kapitel 10

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"Was macht ihr denn hier?", begrüßte uns eine ruhige Stimme, "Habe ich euch nicht in die Hölle verbannt?"
Der großgewachsene Mann erhob sich ruhig und gelassen aus seinem Sessel und legte die Hände aneinander. Mehr von ihm erkannte man nicht, seine Konturen, sein Gesicht, jedes noch so kleine Detail waren unkenntlich, flimmerten wie in großer Hitze. Nur ab und zu konnte man etwas erkennen, aber nur, wenn er es wollte. Es tat mir in den Augen weh, ihn anzusehen.
"Und die habe ich, wenn ich nicht irre, vor...", er überlegte kurz,"... ca. 199.988 Jahren endgültig versiegelt. Liege ich da richtig?"
Weder Luzifer noch ich gab sich die Mühe ihm zu antworten. Wir standen mit verschränkten Armen einfach nur da und warteten auf den richtigen Moment.
"Was führt euch her?", fragte Jahwe schließlich,"Du, Luzifer, möchtest mit wahrscheinlich beweisen, dass du tatsächlich genauso stark bist wie ich. Und du Lilith..."
Ich stellte mich automatisch gerader hin, als sein vermutlich ruhiger Blick sich auf mich richtete, "...du bist wahrscheinlich noch immer erbost darüber, dass du nach der Versiegelung nicht mehr zu den Menschen konntest, um deine Drohung wahr zu machen."
Er kam gemächlich auf uns zu, doch ich wich nicht zurück. Das hatte ich nie getan und würde es auch nie tun. Niemals.
"Ganz richtig."
Luzifer nickte mit finsterem Blick, während er das sagte. Jahwe nickte ebenfalls und ließ uns ein wissendes Lächeln sehen.
"Selbstverständlich liege ich richtig. Ich weiß alles über euch, schließlich bin ich euer Erschaffer."
Ich spürte Wut wie blubberndes Magma in mir aufsteigen. Anmaßend und rechthaberisch wie immer. Noch dazu ein Lügner und Betrüger. Und intoleranter Kritik gegenüber als ich. Einmal mehr fragte ich mich, weshalb ausgerechnet dieses Wesen die absolute Macht bekommen hatte.
"Genug geredet!", herrschte ich ihn wütend an, "Brich das Siegel, damit dem Versprechen Genüge getan werden kann! Sonst gehe ich nie wieder zurück und töte nicht nur die Säuglinge ohne Amulett, ich vernichte ganze Städte! Solange, bis die ganze Welt in Schutt und Asche liegt. Und dann ist der Himmel dran."
Ich hatte mich richtig in Rage geredet, so absolut geladen war ich. Aber ich hatte nicht vor, es nur bei bloßen Worten zu belassen, oh nein. Ich meinte jedes einzelne Wort genau so, wie ich es sagte.
Mein Freund warf mir einen erstaunt-beeindruckten Blick zu, während Jahwe meine Rede nur belächelte.
"Du konntest schon immer gut mit Worten umgehen. Und... weißt du was?"
Mit einer ruckartigen Handbewegung pfefferte er den überrumpelten Teufel an die Wand, wo er bewusstlos liegenblieb.
"Du wirst nicht in die Hölle zurückkehren. Nirgendwo mehr hin, außer ins Verließ."
Etwas traf mich am Arm, den ich leider etwas zu spät hochriss. Mir wurde ganz schummrig, sodass ich den kleinen Pfeil beinahe nicht gesehen hätte. Benommen versuchte ich aufrecht zu stehen und drehte mich wie in Zeitlupe zur Tür. Gabriel und Raphael kamen von dort auf mich zu. Mein Sichtfeld wurde auf die Seite gekippt und ich spürte erst sehr stark verzögert, dass ich mit dem Kopf nun auf dem Boden lag. Davor hatte ich es noch geschafft, mich zu Luzifer zu drehen, der noch immer bewusstlos an der Wand lehnte. Dieser Feigling Jahwe hatte ihn nicht in einem fairen Kampf geschlagen.
"Ich finde es furchtbar, meine Geschöpfe wieder auszulöschen, wo ich mir doch so viel Mühe mit ihnen gegeben habe. Doch in eurem Fall..."
Die Stimme drang nur ganz leise und verzerrt an mein Ohr, meine Gedanken wurden langsam von dichter Schwärze erfüllt.
"Bitte Luzifer, wach auf. Wach auf...", murmelte ich schwach. Dann verlor ich das Bewusstsein.

In meinem Kopf drehte sich alles, jeder Millimeter meines Körpers schmerzte. Dieser Feigling hatte mich einfach an die Wand geworfen! Wie ein altes, nicht mehr benötigtes Spielzeug. Hätte ich meine Kräfte verfügbar gehabt, hätte ich das gleiche mit ihm machen können. Hätte, hätte...
Ich rappelte mich auf und sah mich um. Oh, toll. Ich war im Verließ. Mal wieder. Auch wenn das letzte mal schon sehr lange zurück lag. Ich trat zu den magisch verstärkten Gitterstäben und suchte mit den Augen nach Lilith. Wenn die ihr irgendwas angetan hatten..! Bestimmt saß sie verzweifelt auf der Pritsche in ihrer Zelle und hasste mich gerade. Wie konnte ich mich auch nur wie ein Anfänger überrumpeln lassen! Verdammt noch eins, ich bin der Teufel! Ich würde mir nie verzeihen, sollte ihr etwas passieren.
Zähneknirschend trat ich gegen die blöden Stäbe. Was sich allerdings als sehr schlechte Idee herausstellte, da mir besagte Stäbe einen heftigen Magiestoß verpassten. Keuchend sank ich zurück auf die Knie und stellte mit grimmiger Genugtuung fest, dass der Stoß sehr viel stärker war als bei meinem letzten... Aufenthalt. Sie hatten also Angst vor mir.
Nachdem ich mich ein zweites mal aufgerafft und den Staub von meiner Kleidung geklopft hatte, sah ich mich erneut nach Lil um. Diesmal hielt ich mich vom Gitter allerdings fern. Mir gegenüber war eine leere Zelle, die links daneben war ebenso verlassen. Die rechte war besetzt, doch der Insasse drehte mir den Rücken zu. Trotzdem würde ich diese Person überall erkennen, sogar (wie in diesem Fall) ohne Flügel. Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht.
"Na, wirst du 'storniert'?", fragte ich ihn, wofür ich einen finsteren Blick erntete.
"Nein, ich werde 'versetzt'. Darf dir bald Gesellschaft leisten", knurrte er bitter und blickte stur gegen die graue Marmorwand.
"Ah ja?"
Ich legte den Kopf schief und verschränkte die Arme. Er wusste es also noch nicht. Armer Idiot. Ich hab doch immer gewusst, dass er irgendwann so enden würde. Und er hatte mir nicht geglaubt.
Uriel hob auf einmal den Kopf und guckte lauschend den Gang entlang. Kamen die etwa schon, um mich zu holen? Hoffentlich nicht, ich hatte Lil ja noch gar nicht gefunden! Ohne Verabschiedung würde ich nicht abtreten, unter gar keinen Umständen. Da hörte ich es auch. Ein stetiges Wummern gegen den kalten Stein, als würde jemand mit aller Macht dagegen schlagen.
"Sie hat eindeutig zu viel Kraft", murmelte er und zog eine Grimasse.
"Wen meinst du? Etwa Lilith?", fragte ich, darum bemüht mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen.
"Wen sonst?", antwortete Uriel und wandte sich mir zu.
Trotz allem drückte ich mich wieder an das Gitter und umklammerte fest zwei der Stäbe. Ein leichter Schock durchfuhr mich, die größte Kraft wurde erst bei Gewaltanwendung eingesetzt.
"Lil!" Die Schläge verstummten.
"Luzifer?", fragte sie erfreut und ich sah ihre Hand in meine Richtung winken. Ihre Gitterstäbe standen wohl etwas weiter auseinander als meine.
"Ich hab schon befürchtet, du wärst tot!", sagte ich erleichtert. Lil lachte.
"So schnell sterbe ich nicht."
"Is ja rührend! Du hast doch so etwas wie Gefühle!"
"Halt den Mund, Uriel."
"Ich hätte nicht gedacht, das der Teufel jemals das Wohl einer anderen Person über sein eigenes stellen würde."
Ich knurrte ihn gereizt an und hätte ihm dieses dämliche Grinsen nur allzu gerne mit ein bisschen Feuer vom Gesicht gewischt. Lil kicherte leise im Hintergrund. Sie verstummte jedoch, als Schritte durch den langen Gang hallten.
"Uriel, wo bist du?", fragte eine männliche Stimme.
"El Auria!", rief der Gefragte erfreut. Ich verdrehte die Augen und schnaubte genervt. Das Schoßhündchen war wieder da.
Kurz darauf stand er vor Uriels Zelle und grinste schief.
"Da hast du dich ja in was reingeritten. Ich versuche wirklich alles, um Raguil und Dubiel umzustimmen."
Sein Meister machte eine wegwerfende Handbewegung.
"Lass ruhig, das wird eh nichts. Aber danke. Hey, du hast ja die Schlüssel!"
Was für ein kluges Kerlchen, der total auffällige Schlüsselbund an seiner Hose ist mir bereits lange aufgefallen. Jetzt musste ich nur noch drankommen.
El Auria nickte und meinte bedauernd:
"Stimmt schon. Ich darf dich halt nur nicht befreien."
Fieberhaft suchte ich nach einer Lösung. Irgendwie musste ich doch an die blöden Schlüssel kommen!
"El Auria!"
Lilith riss mich aus meinen Gedanken. Der Angesprochene wandte sich um und trat zu ihr ans Gitter. Was hatte sie vor?
"Was gibt es denn?", fragte er kühl, erstarrte dann jedoch.
"Du gehst jetzt wieder zurück zu Luzifers Zelle, händigst ihm die Schlüssel dort an deiner Hose aus und gehst dann dahin zurück, wo du hergekommen bist und noch viel weiter", redete sie mit einlullender Stimme auf ihn ein. Er nickte tatsächlich langsam und kam zu mir. Wie hatte sie das angestellt?
"Tu das nicht!", zischte Uriel eindringlich, "Ich warne dich!"
Ich fragte mich gerade, was er denn dann machen wollte, als die Tür leise aufschwang, El Auria einfach umdrehte und das Verließ verließ. Diese Gelegenheit ließ ich mir nicht entgehen, trat heraus und zog den Schlüssel ab, mit dem ich dann triumphierend vor Uriels Gitter klimperte.
"Wir sehen uns."
Er schnaubte wütend und starrte mir hinterher, wie ich zu Lils Zelle trat.
"Bin ich nicht ein Genie?", fragte sie mich lächelnd.
"Was sonst."
Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als ich aufgrund eines Gedankens erstarrte. Ich konnte sie nicht da raus holen. Sie durfte einfach nicht mit mir kommen. Ich starrte den Schlüssel in meiner Hand an.
"Was ist?", fragte Lil mich misstrauisch,"Mach schon, die Wachen kommen bestimmt gleich!"
Schlussendlich schleuderte ich den Schlüssel den Gang entlang, bis dieser gegen die Wand prallte. In besagte Wand schmolz ich ein großes Loch und ging darauf zu.
"Hey! Lass mich nicht hier zurück!", hörte ich Lil rufen. Ich zwang mich dazu, nach vorne zu sehen und nicht stehen zu bleiben. Am Abgrund atmete ich noch einmal tief durch.
"Du kannst mich doch nicht hier lassen. Bitte, Luzifer."
Dann hob ich ab.

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