Kapitel 3

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Eine Woche später am Morgen, wenn man es denn so nennen konnte, hatte ich bereits eine dumpfe Vorahnung, dass irgendwas ungewöhnliches geschehen würde. Deshalb hatte ich auch so gute Laune.
Ich stand auf und wechselte von meinen Schlafsachen zu einem schwarzen Kleid. Luzifer schlief noch.
"Aufstehen!", flötete ich fröhlich und stupste ihn in die Seite, "Heute passiert was spannendes!" Stöhnend rollte er sich auf den Bauch, vergrub sein Gesicht im Kissen und legte seine Flügel schützend um sich.
"Lass mich, Lil", kam es dumpf daraus hervor. Und ich kann nicht gut aufstehen, wie?
"Komm schon! Du hast doch bestimmt zu tun!"
"Heute mal nicht!", antwortete er mir,"Ausnahmsweise hab ich mal frei. Ich will also ausschlafen!"
"Pft. Du kannst gar nicht frei haben."
Ich zog ihm eine seiner schwarzen Federn aus dem Flügel.
"Au", brummte er mehr aus Reflex, als vor Schmerz. Er drehte sich wieder auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf.
"Warum bist du überhaupt schon wach?"
"Weil heute was passiert!", wiederholte ich.
"Und was genau?", fragte er genervt.
"Ich habe nicht die geringste Ahnung!", erwiderte ich strahlend. Ich musste ihm total bescheuert vorkommen. Er seufzte schicksalsergeben und setzte sich auf.
"Du bist echt einzigartig. Zum Glück."
Ich lächelte säuerlich.
"Sehr witzig, Luzifer."
"So bin ich."
Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu, doch er stand tatsächlich auf.
Zufrieden verließ ich den Raum und lief in den Thronsaal. Dort setzte ich mich auf meinen Thron und beobachtete fröhlich die Diener, wie sie geschäftig umherliefen und mir ab und an unterwürfig einen guten Morgen wünschten. Heute wollte ich mal keine von ihnen sein, mir war nicht langweilig. Im Gegenteil, ich war von einer inneren Unruhe befallen und konnte kaum stillsitzen.
"Das muss ja ein wahnsinnig spannendes Ereignis sein, wenn du hier so rumhüpfst, Lilith."
Luzifer kam zu mir und setzte sich auf seinen Thron. Ich glaube, das war sein Lieblingsplatz im Schloß, so machtbesessen wie er war. "Wenn ich's wüsste!", kicherte ich. Ich führte mich auf wie ein Kleinkind. Und das für fast fünf Stunden.

Irgendwann überkam mich der Drang zum Magmasee zu fliegen. Ich hielt es nicht mehr im Schloß aus. Ich flog übermütig schlingernd, mal hoch und mal tief- ich flog sogar Loopings. Ich schaffte es irgendwie ohne Unfälle zum Felsen in der Mitte des Sees und ließ mich darauf nieder. Dann verfiel ich urplötzlich ins Grübeln, meine viel zu gute Laune hatte ich verdrängt. Konnte man die Schreie der Leidenden als Musik bezeichnen? Ein Diener hatte mir heute die Musik beschrieben, so gut es eben ging. Ich wollte richtige Musik mit eigenen Ohren hören. Das Geschrei war keine. Nein, nicht wirklich. Früher dachte ich immer so, aber jetzt... Ich musste wieder zurück. So viel stand fest.
Es gab so vieles, was ich noch nicht gesehen hatte! Nur wie sollte ich das anstellen? So saß ich da und grübelte, wie ich hier wegkam.
Wenn Luzifer davon Wind bekäme... Er wusste zwar, dass ich 'Heimweh' hatte, aber er wusste auch, dass das zu meiner Strafe gehört. Ich entschied, dass ich ihm nichts davon sagen sollte. Er wäre bestimmt sauer. Und das wäre sehr schlecht.
Ich strich mir mit der Hand durchs Haar und fixierte angestrengt einen Punkt in der Ferne. Ich musste nachdenken. Mir wollte aber partout nichts einfallen! Wirklich nichts.
Ich war kurz davor, wieder schlechte Laune zu bekommen, als ich mich an das kommende Ereignis erinnerte. Meine fast schlechte Laune wich wieder dieser unerklärlichen Unruhe.
"Wann passiert denn endlich was?", fragte ich mich selbst und blickte mich suchend um. Als ob das Ereignis am Ufer des Sees schwebt, Feuer spuckt und ein Schild mit der Aufschrift HIER PASSIERT WAS  hochhält! Ich suchte nach zu offensichtlichen Dingen. Die es nicht gab. Ich musste wohl oder übel warten. Ich hasste warten. Aber es half ja nichts.

Ich wartete vergeblich. Den ganzen Tag über geschah nichts besonderes. Der Tag verlief wie jeder andere auch. Am Abend saß ich sogar wieder auf dem Felsen im Styx und starrte in den Himmel. Allerdings besuchte mich Fury, ein kleiner Trost nach dieser Enttäuschung.
"Guten Abend, Lilith", begrüßte sie mich.
"Hallo Fury. Lange nicht gesehen."
Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab.
"Was ist denn los?", zischelte sie und wand sich um meinen Arm. Seufzend erzählte ich ihr von meiner Hoffnung auf etwas spannendes. Sie hörte mir aufmerksam zu, zischelte am Schluß mitfühlend und spreizte die schwarzen Flügel.
"Eines Tages, Lilith. Eines schönen Tages."
Sie erhob sich in die Luft und flog wieder davon.
Das war... nicht wirklich hilfreich.
Ich blickte ihrem schwarz schimmernden Körper noch lange nach. Dann war ich wieder allein. Seufzend zog ich die Knie an und schlang die Arme darum. Nichts. Den ganzen Tag über nichts besonderes. Ich blieb noch lange sitzen und wartete auf ein Ereignis. Irgendwann gab ich es allerdings auf und flog enttäuscht zum Schloß. Wie konnte ich nur so naiv sein, zu denken, dass sich mein Leben irgendwann ändern würde.

"Na, Lil? Hattest du dein spannendes Ereignis?", fragte Luzifer mich, als ich mit hängendem Kopf durch das große Eingangsportal trat.
"Nein", murmelte ich geknickt und machte mich auf den Weg ins Bett. Ich hatte keine Lust mehr auf irgendwas. Nicht mal wirklich auf schlafen.
"Da ist aber jemand niedergeschlagen."
Gut kombiniert, Genie.
Wortlos stieg ich die Treppe nach oben und betrat das Schlafzimmer. Ich wechselte meine Kleidung und ließ mich auf das weiche Bett fallen. So eine Enttäuschung. Zumindest weinte ich nicht. Mein Freund erschien neben mir und beobachtete mich stumm.
"Mach dir nichts vor, Lilith. Worauf auch immer du hoffst, es wird nicht passieren", sagte er dann und ließ seine Flügel verschwinden. Mit Flügeln zu schlafen war unbequem, ich hatte meine auch aufgelöst. Ich drehte ihm den Rücken zu. Jetzt hatte ich wirklich keine Lust, mit ihm zu diskutieren.
"Lil-"
"Lass mich in Ruhe! Ich hab's verstanden!", fauchte ich ihn gereizt an. Dann starrte ich finster gegen die rotschwarze Wand. Die selbe Wand wie immer. Dann durch das Fenster.
Draußen liefen noch immer Menschen umher, schleppten irgendwas oder liefen los, um mehr Sachen zu holen. Sie taten mir leid. Auf einmal. Seid letzter Woche machte ich mir Sorgen um die Menschen. Und ich verstand nicht warum. Es versetzte mir jedesmal einen Stich, wenn ich sie leiden sah, nur Eva war nach wie vor eine Ausnahme.
Deshalb mied ich den Magmasee auch plötzlich. Nur heute hatte ich etwas Bewegung gebraucht. Das ärgerlichste allerdings war, dass ich mein Mitleid verstecken musste.
Ich schielte über die Schulter zu Luzifers Platz. Leer. Gut so, er konnte Gedanken lesen. Wieso ich so urplötzlich Mitleid mit den Menschen hatte? Wahrscheinlich, weil ich auch mal einer gewesen war, vielleicht immer noch war. Tief in mir drin.

"Lilith."
Luzifers Stimme drang nur schwach an mein Ohr, als sie mich aus meinem Schlaf riss.
"Was?", murmelte ich müde, "Ich hab geschlafen, siehst du das nicht?"
Ich drehte mich zu ihm und guckte ihn vorwurfsvoll an.
"Spürst du das nicht?", fragte er und guckte sich misstrauisch um. Er saß aufrecht da und ließ seinen Blick ruhelos umherschweifen.
"Was denn?"
Er stand auf und tigerte suchend durch den Raum. 
"Vielleicht kriegst du dein Ereignis doch noch."
Ich sprang begeistert auf.
"Echt jetzt?!" 
Luzifer nickte nur grimmig. Ich hatte recht gehabt! Ich war gerade kurz davor, wie blöd durchs Zimmer zu springen, als ich auch etwas spürte. Ein starker Sog zog mich unwiderstehlich an. Er kam von der Decke.
Den Kopf in den Nacken gelegt guckte ich an die Decke- und erstarrte. Ich zupfte meinen Freund an seinem Flügel und riss ihm versehentlich eine weitere Feder aus. Er riss den Kopf herum und folgte meinem Blick zu dem blutroten, aber blassen fünfzackigen Stern an der Decke direkt über mir. Er war umschlossen von einem Kreis und verschiedenen Schriftzeichen. Ein Zacken zeigte nach unten, zwei nach oben, die anderen beiden zur Seite.
"Was ist das?", hauchte ich. Luzifer starrte den Stern an und war furchtbar blass.
"Keine Ahnung", murmelte er. Ich sah ihm an der Nasenspitze an, dass er log. Ich wollte ihn gerade darauf ansprechen, als das Zeichen anfing zu glühen. Heller als die Funken die durch Teleportation entstanden, fast so hell, wie das blubbernde Magma im Styx. Und auf einmal war ich von gleißendem, rötlichen Licht eingeschlossen. Es schien förmlich aus dem Kreis um den Stern zu fließen und bildete eine hohle Säule um mich. Ich hörte Luzifer meinen Namen rufen, doch es klang stark gedämpft. Die Lichtsäule begann sich zu füllen. Mit angelegten Flügeln wartete ich darauf, dass mich das Licht umschloss. Es wollte mir nichts böses, das spürte ich.
"Lil! Komm da raus!"
Dann hörte ich ihn nicht mehr. Stille und Licht umschloss mich. Ich schwebte. In diesem wunderschönen, rötlichen Licht. Einen Augenblick lang vergass ich all meine Sorgen, alles, was ich je erlebt hatte.
Dann wurde alles augenblicklich rabenschwarz und ich fiel.  

LilithWo Geschichten leben. Entdecke jetzt