SECHS

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"Ich trinke nie wieder Alkohol.", stöhnte Charlie während sie neben meinen Spind an der Wand lehnte.
"Heul doch nicht so, Saufnase.", erwiderte ich, während ich meine Bücher für die erste Stunde rauskramte. Sie warf mir nur einen wütenden Blick zu.
Ich warf die Tür meines Spindes zu und packte ihr Handgelenk.
"Komm jetzt, wir sind schon spät dran. Mr. Wright wird uns umbringen, wenn wir nochmal zu spät kommen.", sagte ich mit Nachdruck während ich sie hinter mir her zog.
Der Schulinnenhof war schon fast wieder leer, die meisten Schüler hatten sich schon in ihre Klassenräume verzogen. In der Mitte befand sich ein quadratisches Beet, auf dem umliegenden Rasen standen vier Bänke, eine auf jeder Seite des Beetes. Zwischen den Unterrichtsstunden und in den Pausen waren diese der beliebteste Platz zum sitzen, doch nur wenige fanden Platz darauf. Die übrigen mussten sich wohl oder übel auf das Grass setzten oder stehen bleiben.
Am Rande des Hofs waren rundherum Spinde, an den sich alle Schüler sammelten, wenn es regnete, da nur diese überdacht waren.
Wir liefen über den Rasen, als ich plötzlich eine, mir bekannt vorkommende, Stimme hörte.
"Hast du nicht etwas vergessen, Johanna?" Erschrocken blieb ich stehen, weswegen Charlie gegen mich stolperte.
Als ich mich umdrehte blickte ich in die selben undefinierbaren Augen, die mich gestern vor der Kirche so fasziniert haben.
Ich verschränkte meine Arme vor der Brust, legte meinen Kopf schief und betrachtete ihn mit einem fragenden aber gleichzeitig abschätzenden Blick.
"Wenn ich mich recht erinnere, solltest du mich doch heute rumführen."
"Nun, wie du siehst, bleibt wenig Zeit zum rumführen. Die erste Stunde hat bereits begonnen.", antwortete ich genervt.
"Nun, wie du siehst, bist du immer noch hier also scheint dich das ja nicht wirklich zu stören.", äffte er mich nach. So langsam wurde ich wütend.
Ich holte schon Luft um ihn einen bissigen Kommentar an den Kopf zu werfen, als Charlie mir das Wort abschneidete.
"Mein Gott, wenn ihr noch lange hier draußen rumredet, können wir auch gleich zum Büro des Rektors gehen. Zeig mal her.", sagte sie während sie nach seinem Stundenplan griff, den er in der Hand hielt.
Genervt, dass Charlie sich auf seine Seite geschlagen hatte, blicke ich zur Seite und verdrehte die Augen. Bestimmt würde Charlie seinem, zugegeben nicht unattraktiven Erscheinungsbild verfallen und sich an ihn ranmachen und er würde, weil Charlie auch nicht gerade hässlich war, darauf eingehen.
"Du hast jetzt Bio, hm. Das ist auf der komplett anderen Seite der Schule.", murmelte Charlie und biss sich auf die Lippe.
"Bestimmt wird euer Lehrer es verstehen, wenn Johanna etwas später kommt, weil sie mir den Raum zeigen musste. Deine Freundin kann es ihm ja ausrichten."
Als ich meinen Kopf drehte, sah ich wie Alex mich fixierte und anscheinend eine Antwort abwartete. Als Charlie hoch sah, bemerkte sie seinen Blick und nachdem sie einen kurzen Blick auf mich geworfen hatte, wand sie sich wieder Alex zu.
"Ich werde es ihm erklären. Braucht aber nicht zu lange!", zwinkerte sie mir zu.
"Charlie!", zischte ich leise, doch sie warf mir nur einen vielsagenden Blick zu, drückte meinen Arm und verschwand hinter einer der Türen.
Verzweifelt blieb ich stehen, Alex den Rücken zu gewandt. Ich wusste gar nicht, wieso es mich so störte, ihn zu seiner Klasse zu führen, aber alles in mir sträubte sich auch nur eine Sekunde länger als nötig mit ihm zu verbringen.
"Und? Worauf wartest du?", sagte Alex während er neben mich trat.
"Hör zu, wenn du mich schon nicht in Ruhe lässt, dann verkneif dir wenigstens jegliche Kommentare.", zickte ich ihn an.
"Hey, Cowgirl, komm mal wieder runter, ich will lediglich dass du mich zu meinem Bioraum führst." Er spielte auf meine Füße an, die wiedermal in meinen braunen Cowboystiefeln stecken.
Plötzlich kamen mir Connors Worte wieder in den Sinn, verurteile niemanden nach dem ersten Eindruck.
"Meinetwegen.", knurrte ich kleinlaut.
Sofort huschte wieder Alex' selbstsicherer Blick auf sein Gesicht.
"Na dann, Lady's first.", sagte er während er mir irgendeine Tür offen hielt.
"Ich würde dir ja folgen, wäre das hier nicht der komplett falsche Weg.", antwortete ich, diesmal schon ein wenig netter, während ich auf die andere Seite des Hofes zusteuerte.

"Und dann hat sie mich einfach hoch gehoben, auf den Arm genommen und weggetragen, während der komplette Supermarkt meinen kleinen Ausbruch miterlebt hatte.", beendete Alex seine Geschichte.
"Deine Tante scheint eine echt interessante Frau zu sein.", erwiderte ich lachend.
Wir bogen grade in den Biologie-Flur ein und ich steuerte auf Raum 122 zu.
"Glaub mir, das ist sie.", antwortete er schmunzelnd.
"Nun, das hier ist Raum 122. Ich denke, den Rest solltest du alleine hinbekommen.", sagte ich ernst und deutete auf eine braune Holztür.
"Ich werde es versuchen, aber falls nicht, du bist ja stets da um mir zu helfen." Er warf mir ein verschmitztes Lächeln zu, dass ich ohne es zu wollen, erwidern musste.
"Da wäre ich mir nicht so sicher." Ich lief schon wieder langsam rückwärts.
Alex warf mir nur einen amüsierten Blick zu, bevor er an die Tür klopfte und eintrat.
Ich machte mich wieder auf den Weg in Richtung meiner Klasse.
Alex war doch netter als ich erwartet hatte, doch so richtig war ich noch nicht von ihm überzeugt. Egal was er sagte, es lag immer dieser arrogante Unterton darunter, der zwar irgendwie sexy war, aber mich gleichzeitig auch zur Weißglut brachte. Allerdings, als er eben von seiner Tante gesprochen hatte, hatte er nicht wirklich arrogant geklungen, sondern eher... verträumt.
Stop! Warum dachte ich überhaupt über ihn nach? Ich war vollkommen glücklich in meinem Leben, ich hatte meine Freunde, Connor, schrieb gute Noten, war beliebt und hatte ausreichend Geld. Alex hatte wirklich keinen Platz in meinem Leben. Und noch hatte mich mein Instinkt nie fehl geleitet, wäre Charlie nicht gewesen hätte ich mich nie mit Alex unterhalten und hätte mir auch nie Gedanken über ihn gemacht.
Ich beschloss also Alex aus meinem Kopf zu verbannen und mich auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu konzentrieren.

"Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen." Ich knallte mein Tablet auf den Tisch. Charlie, die vor mir saß, zuckte kurz zusammen und schaute dann zu mir hoch. Nach der ersten Stunde war sie sofort aus dem Raum geflüchtet und bis zum Mittagessen hatte ich sie nicht mehr gesehen. Unschuldig steckte sie sich eine Nudel in den Mund.
"Charlieeeee.", quengelte ich.
"Ich hatte gehofft, dass du ihn einlädst sich beim Mittagessen zu uns gesellen.", gab sie zu.
"Tja, falsch gedacht.", erwiderte ich, als ich auf die Bank rutschte.
"Wieso nicht? Über was habt ihr geredet?", fragte Charlie interessiert. Ich warf ihr einen genervten Blick zu.
"Wir haben über seine Tante geredet. Und über New York." Ich griff nach dem Salz um meine Pommes nachzusalzen.
"New York? Wie kommt ihr denn bitte darauf."
"Er hat dort mit seiner Mutter gelebt, aber die ist wohl irgendwie gestorben und jetzt ist er zu seinem Vater gezogen." Ich steckte mir den ersten Bissen in den Mund.
"Der Chief.", warf ich noch hinterher.
"Interessant. Ich hatte noch nie einen New Yorker...", murmelte Charlie.
"Dafür aber um so mehr Alabamer.", ertönte plötzlich eine Stimme hinter uns.
Wir drehten uns gleichzeitig um und sahen Will mit Viv, Mason und Cody im Schlepptau auf uns zu marschieren.
"Sei doch bloß nicht eifersüchtig weil ich nie was von dir wollte.", konterte Charlie.
"Glaub mir, dass beruht auf Gegenseitigkeit.", murmelte er etwas leiser. Charlie bedachte ihn mit einem bissigen Blick.
"Was steht heute an?", fragte ich, als alle saßen.
"Nichts besonderes, glaube ich. Vielleicht gehen wir bowlen oder ins Kino oder so.", antwortete mir Mason.
"Ich wüsste eine Person die du einladen könntest.", ertönte es von meiner Seite.
"Charlie!", zischte ich, aber zu spät.
"Hast du etwa jemanden kennen gelernt?", murmelte Will verschwörerisch und lehnte sich zu mir rüber.
"Ganz sicher nicht." Ich verdrehte die Augen.
"Naja, so kann man es nicht sagen. Sein Name ist Alex und er kommt aus New York. Und er ist süß.", widersprach mir Charlie.
"Du MUSST ihn nach einem Date fragen. Bald ist Home Coming und wir wollen ja nicht, dass du alleine hingehen musst.", rief Viv.
"Vergiss es! Ich hab es nun wirklich nicht nötig den erst besten zu nehmen der mir über den Weg läuft.", sagte ich.
"Genau DAS ist dein Problem. Du hast zu hohe Ansprüche. Seit wann hattest du jetzt keinen Typen mehr? Bestimmt seit 5, 6 Monaten.", versuchte mich Will weiter zu überzeugen.
Ich schluckte. Wenn er nur wüsste.
"Alle Typen die ich kenne sind einfach zu weit auf der Freundschaftsschiene. Und auf Fremde hab ich auch keine Lust. Und überhaupt, Charlie will doch was von ihm.", versuchte ich vom Thema abzulenken.
"Ich würde ihn dir aber, großzügig wie ich bin, überlassen.", lächelte sie mich zuckersüß an.
Ich schnaubte.
"Kommt Leute, lasst sie ihn Ruhe. Wenn sie ihn nicht will, ist doch ihre Sache.", pflichtete Mason mir bei.
Dankbar lächelte ich ihn an.

Little AlabamaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt