"Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt.", sprach Reverent Dearing. Normalerweise waren seine Predigen echt ertragbar, aber nach der etwas zu modernen Predigt über sexuelle Aufklärung von vor einer Woche, hatten sich viele Eltern aus der Gemeinde beschwert, so dass der Reverent diesen Sonntag eine sehr konservative Predigt hielt.
Meine Gedanken schweiften ab, genauso mein Blick. Die ganze Stadt hatte sich in der Kirche versammelt, der wöchentliche Kirchengang gehörte hier einfach dazu.
Rechts neben mir saß mein kleiner Bruder Max, links meine Mutter mit meiner noch kleineren Schwester Mira auf dem Schoß. Max war 13 und Mira 8. Neben meinen zwei kleineren Geschwistern hatte ich auch noch zwei größere, Sarah und David, 17 und 19. Ich, mit meinen 16 Jahren war das mittlere Kind und damit der Außenseiter, aber da ich nur ein Jahr jünger als Sarah war, fühlte ich mich nicht wirklich so. Max hatte da schon eher Pech gehabt, da zwischen mir und ihm drei Jahre lagen und zwischen ihm und Mira sogar fünf.
Plötzlich merkte ich, wie alle das Gesangsbuch aufschlugen um das Schlusslied zu singen. Um dem auffordernden Blick meiner Mutter gerecht zu werden, tat ich dem gleich und sang mit.
Früher, als ich jung war, sang mein Vater oft und gerne mit uns, doch je älter wir wurden, desto weniger wurde auch dies. Er hatte eine wunderschöne Singstimme und versuchte dies auch seinen Kindern nahezulegen und fand vor allem in meiner Schwester Sarah eine Verbündete darin.
Als das Lied ausklang, machten sich alle auf, in Richtung Ausgang. Auf dem Weg zur Tür lief ich an meiner besten Freunden Charlotte vorbei, die mich am Arm festhielt, so dass ich stehen blieb.
"Und, darfst du?", flüsterte sie mir ins Ohr. Charlie war ein großes, sehr hellblondes Mädchen mit einem sehr hellen Hautton und strahlend grünen Augen. Sie war sehr schlank, selbst dünner als ich, obwohl ich schon dünn war.
"Ich hab noch nicht mal gefragt!", erwiderte ich leise und riss mich von ihr los, damit ich meinem Vater hinterher rennen konnte.
Er stand draußen und unterhielt sich gerade mit seinen Ratskollegen. In Deront, der Stadt in der ich lebte, gab es den Stadtrat, der so gut wie die komplette Macht über die Stadt hatte. Er bestand aus dem Bürgermeister, dem Reverent, dem Chief und sechs weiteren frei gewählten Bürger der Stadt die jedes Jahr neu ernannt werden konnten. Tatsächlich blieb er allerdings, bis auf höchstens ein Mitglied, jedes Jahr gleich. Mein Vater war einer dieser gewählten Mitglieder. Ich wusste, dass ihm sein Ansehen vor dem Rat sehr wichtig war und das nutzte ich aus.
Ich hüpfte die Treppen runter und setzte mein unschuldigstes Lächeln auf, als ich mich hinter meinen Vater stellte und wartete bis er seinen Satz zu Ende gesprochen hatte. Als er mich bemerkte legte er seinen Arm um meine Schultern.
"Ach, Johanna, du kommst genau richtig." Er wandte sich zu einem, zugegeben ziemlich gut aussehenden Jungen in meinem Alter, der neben ihm stand. Er hatte hellbraunes Haar, das wuschelig in alle Richtungen stand, ein ovales Gesicht und eine zugegeben, äußerst attraktive, athletische Figur. Am meisten allerdings faszinierten mich seine Augen. Auf dem ersten Blick waren sie grün, doch wenn man genauer hinsah, bermerkte man, dass der innere Kreis um die Pupille dunkelbraun war und diese beiden Farben ineinander verliefen. Ich war von diesen Augen so fasziniert, dass ich eine Weile brauchte bis ich auf die Hand reagierte, die er mir hinhielt. Als wir unsere Hände schüttelten, schaute er mich mit einem verschmitzten Lächeln an. Irgendwie war es arrogant, aber irgendwie auch... auffordernd. Genau, das war das richtige Wort. Sein Blick versuchte mich zu irgendwas aufzufordern, aber ich wusste einfach nicht was.
"Johanna, das ist Alex Coleman. Er ist der Sohn vom Chief und neu hier. Ich glaube, eine Freundin könnte er an seinem ersten Schultag gut gebrauchen, es wäre also nett wenn du ihn morgen herum führen könntest.", erklärte mein Vater. Ich musterte Alex. In seinem grünen Satinhemd sah er so brav aus, aber in seinem Blick lag etwas wildes, etwas, mit dem man Spaß haben könnte.
Ich wusste, dass wenn ich meinen Vater jetzt blamierte, würde ich niemals meinen Willen bekommen, also schüttelte ich kräftig seine Hand und setzte ein falsches Lächeln auf.
"Hallo Alex, willkommen in Deront. Ich hoffe, es ist das was du erwartet hast.", lachte ich. "Ach und Daddy? Charlotte und ich müssen morgen ein Schulprojekt abgeben und wollten das heute machen und weil das höchstwahrscheinlich den ganzen Abend dauert, dürfte ich danach bei ihr übernachten, ist das okay?"
Mein Vater wirkte überrumpelt. Ich wusste, dass er es eigentlich nicht gerne hatte, wenn ich außerhalb schlief wenn am nächsten Tag Schule war, aber vor seinen Kollegen seiner Tochter ein Schulprojekt zu verweigern, ging ihn dann doch irgendwie gegen den Strich. Er runzelte die Stirn.
"Ein Schulprojekt? Für welches Fach denn?", fragte er zögernd.
"Amerikanische Geschichte. Ein Zeitstrahl mit allen wichtigen Ereignissen Alabamas." Das erste Thema was mir in den Kopf schoss.
"Na dann. Es gibt nichts interessanteres als das Herz des Südens!", scherzte er während er seinen Arm um mich legte und mich an sich drückte.
"Danke, Daddy!", sagte ich, während ich mich auf die Zehenspitzen stellte um ihn auf die Wange zu küssen. Währenddessen bemerkte ich Alex' Blick. Als ich mich umdrehte, begegneten sich unsere Augen kurz, doch dieser kurze Moment reichte um zu merken, dass er genau wusste, das ich gelogen hatte. Aus irgendeinem Grund machte mich das wütend. Ein völlig Fremder, der hier in die Stadt marschierte, mich arrogant anlächelte und der Meinung war mich durchschauen zu können. Davon hatten wir hier echt genug.
Als ich auf Charlie zu ging, hob sie eine Augenbraue und schaute mich ungeduldig an.
"Er hat's geschluckt!", flüsterte ich ihr leise zu, als ich sie erreicht hatte.
"Super! Na dann haben wir jetzt Spaß, bei unseren Geographieprojekt!", zwinkerte sie mir zu während sie ihren Arm und meine Schulter legte und ich meinen um ihre Hüfte.
"Amerikanische Geschichte, meinst du wohl.", verbesserte ich sie lachend.
"Natürlich.", kicherte sie.
Immer noch lachend machten wir uns auf den Weg zu ihrem Auto. Als ich die Beifahrertür hinter mir schloss, fiel mir eine Person ins Auge. Schon wieder dieser Alex. Er lief am Bürgersteig gegenüber des Autos vorbei und hatte Kopfhörer im Ohr. Kurz bevor er aus meinem Blickwinkel trat, drehte er sich plötzlich um und sah mir genau in die Augen. Verdammt! Jetzt musste er gedacht haben, ich hätte ihn die ganze Zeit über angestarrt.
Charlie bemerkte meinen Blick.
"Wer ist der Kerl, denn du da mit deinen Augen förmlich ausziehst.", flötete sie belustigt, während sie den Gang einlegte und aus der Parklücke rausfuhr.
"Alex Coleman, er ist neu hier. Und ich ziehe ihn ganz sicher nicht aus.", antwortete ich ihr genervt.
"Wieso, er ist doch süß.", lachte sie.
"Und komplett von sich selbst überzeugt. Er ist genauso wie alle anderen Schönlinge."Als wir bei mir Zuhause auf den Vorplatz fuhren, ratterte der Wagen, da er über Kiesel fahren musste. Ich schaute aus dem Fenster. Meine Familie und ich lebten auf einer Ranch, etwas außerhalb der Stadt. Besagte Ranch bestand aus einem Haupthaus, diversen Ställen, einer großen Weide, Lagerhäuser, Felder und so weiter. Ich schmiss die Tür auf und trat auf den Weg. Der Wagen hatte etwas Staub aufgewirbelt, weswegen ich nicht genau erkennen konnte, was um mich herum geschah. Als sich die Wolke jedoch etwas gelegt hatte, sah ich eine Person auf mich zu kommen.
Ich kniff meine Augen zusammen. Wer könnte das wohl sein? Auf einmal stieß ich einen Freudenschrei aus und rannte auf sie zu. Als ich sie erreicht hatte, umarmten wir uns herzlich.
"Viv! Was machst du denn hier? Ich dachte du kommst erst nächste Woche wieder!", rief ich aufgeregt.
"Ich konnte doch nicht die Eröffnung verpassen.", lachte sie herzlich.
Vivian war die Dritte in unserem Bunde. Sie war Asiatin und hatte damit lange, dicke, schwarze Haare und schmale, schwarze Augen. Jetzt hatte auch endlich Charlotte sie entdeckt und begrüßt.
"Wie kommt es, dass du schon jetzt hier bist?", fragte sie schnell und überrascht.
"Mein Vater hat einen Auftrag rein bekommen, den er nicht ausschlagen konnte. Das bedeutet aber auch ich darf ab morgen wieder in die Schule!", scherzte sie.
Vivian war mit ihrer Familie die letzte Woche nach China geflogen um irgendein besonderes Fest zu feiern und hatte dafür sogar eine Schulbefreiung bekommen. Aufgrund der geschichtlichen Vergangenheit unseres Staates versuchte unsere Schule immer aufgeschlossen gegenüber anderen Kulturen zu sein und genehmigte solche Sachen daher wie am laufenden Band.
Wir machten uns auf den Weg ins Haupthaus, wo uns ein warmer, einladender Eingangsbereich erwartete.
"Geht schon mal in die Küche und nehmt euch was zu trinken oder so, mein Familie braucht noch bis sie wieder da ist.", rief ich Charlie und Viv zu, während ich schon halb die Treppe hoch gerannt war. Oben angekommen stellte ich mich vor meinen Spiegel und betrachtete mich. Ich war klein und schlank, meine Hüfte war für meine Figur relativ breit, so dass meine Hüftknochen herausstachen. Allerdings hatte ich deswegen auch eine sehr ausgeprägte Taille. Ich hatte eine sehr weibliche Figur, von Natur aus. Über meine Schultern hingen meine blonden Haaren, die bis zur Taille reichten, allerdings hatte ich diese für die Kirche zurück gebunden. Sie waren sehr dick und außergewöhnlich wellig, was sie schwer machte zu bändigen. Allerdings fand ich meine Haare offen sowieso am schönsten, weswegen ich mein Haargummie heraus zupfte und sie über meine Schultern fallen lies. Ich tauschte mein Kleid gegen eine enge Jeans, ein kurzes, weißes T-Shirt und meine braunen Cowboystiefel. Meine Schwester lachte mich immer für diese aus, aber ich liebte sie. Schnell rupfte ich ein paar Sachen für den nächsten Tag aus dem Kleiderschrank und warf sie zusammen mit meinen Schulsachen in eine Tasche, bevor ich die Treppen wieder runter polterte. Unten angekommen hatte sich Charlie ebenfalls schon umgezogen. Sie trug ein leichtes, rotes Sommerkleid, mit kleinen weißen Blümchen darauf.
"Bereit?", fragte ich auffordernd während ich nach meinem Portemonnaie griff.
"Allzeit bereit!", gab Viv ironisch zurück.
Wir liefen auf dem Haus, die Treppen zur Veranda runter, zurück zu Charlies Auto. Sie fuhr ein weißes Cabrio, eins der wenigen Autos der Stadt, dass nicht aussah, als wäre es vor 50 Jahren gebaut worden. Da ich einen schwarzen Pick-Up fuhr, der Charlie wie sie sagte, zu "bauernhaft" aussah, nahmen wir immer ihren. Mich störte dies allerdings herzlich wenig, da somit auch das Spritgeld an ihr hängen blieb.
Ich schwang mich auf den Beifahrersitz und während Charlie erst noch ihre Haare im Spiegel fixierte, kramte ich mein Handy raus um Mason anzurufen.
Es piepste nur einige Sekunden bevor er den Hörer abnahm.
"Na endlich, seid ihr jetzt aus dem Höllengebäude raus?", fragte er.
"Hör auf, es so zu nennen sonst wirst du noch vom Blitz getroffen!", antwortete ich sarkastisch. Masons Familie war einige der wenigen Familien in Deront, die ziemlich modern lebten und Sonntags nicht in die Kirche gingen. Folglich ließ er auch keine Möglichkeit aus uns dies unter die Nase zu reiben.
Er lachte.
"Na, jetzt sag schon, wo treibt ihr euch heute rum."
"Wir treffen uns vor der Eröffnung nochmal im Rocky's. Aber ich weiß nicht ob das so eine gute Idee ist, Charlie nochmal hier rein zu lassen.", scherzte er und spielte auf die Szene an, die sich letztes Mal als wir uns dort getroffen hatten, abgespielt hatte.
"Halt die Klappe!", zischte ich, mein Lachen unterdrückend und legte auf.
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Little Alabama
Ficção AdolescenteDeront, Alabama. Eine ruhige Kleinstadt in der Nähe Mobiles, in der Johanna und ihre Familie auf einer kleinen Ranch leben. Von außen eine scheinbar perfekte Familie. Dies scheint auch so zu bleiben, würde da nicht plötzlich jemand dazwischen funken...