Jannes

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Ich sollte dazu sagen, dass ich die ersten eineinhalb Absätze tatsächlich im betrunkenen Zustand geschrieben habe - fragt mich bitte nicht, wieso ich betrunken um halb drei einen Oneshot anfange; ich erinnere mich nämlich selbst nicht mehr so genau.😂 naja, viel Spaß bei diesem viiiieeel zu langen Oneshot, den ich nur jetzt schon zu Ende geschrieben habe, weil ich die Idee nicht vergessen wollte.

Es war schon spät. Eigentlich so spät, dass man es längst als "Morgen" hätte bezeichnen können. Die Sonne tauchte Hamburg bereits in ein warmes Orange, einige Menschen in maßgeschneiderten Anzügen hetzten zu ihren stinklangweiligen Jobs in einem der vielen grauen und tristen Betonklötze, die man als Bürogebäude kannte, und im Park zwitscherten bereits die ersten Vögel ihr Morgenlied.
Und dann war da noch ich.
Der völlig betrunkene Mittdreißiger mit aufgerissener Jeans, die mir wohl beim aus dem Haus hinaus schwanken gerissen sein muss, als ich lachend über meine eigenen Füße gestolpert und auf den rauen Asphaltboden gelandet bin. Nicht zu vergessen mein in Alkohol getränktes Hemd, welches in den vergangenen zehneinhalb Stunden immer wieder Opfer von betrunknen ehemaligen Klassenkameraden wurde, die beim Schnaps einschenken jedes Mal meterweit das Ziel verfehlten. Aber man muss ja auch sagen; diese Schnapsgläser sind ja auch wirklich winzig. Die zu treffen, gleicht - bei einem bestimmten Alkoholpegel - der Königsdisziplin bei den Olympischen Spielen. Das war letztendlich auch der Grund, weshalb wir uns ungefähr um zwei Uhr dafür entschlossen hatten, direkt aus der Flasche zu trinken.
Meine Haare standen in allen Richtungen ab, während ich irgendwie den Weg zu meiner Wohnung bestritt; ich stolperte eher, als dass ich wirklich ging. Oftmals war irgendeine Hauswand oder ein Mülleimer mein Retter in der Not, welcher mich vor einer erneuten Kollision mit dem Boden unter mir beschützte.
Beim Anblick meiner Wohnungstür entfuhr mir ein erfreutes Jauchzen und mit einer Menge Konzentration schaffte ich es schließlich, jene aufzuschließen und in meinen Wohnungsflur zu schwanken. Voller Vorfreude bewegte ich mich auf mein Schlafzimmer zu, wo ich mit breitem Lächeln in mein Bett fiel - mit genau der stinkenden, dreckigen Kleidung, die ich am vergangenen Abend sorgfältig für das Treffen mit alten Freunden rausgesucht hatte. Doch in diesem Moment - in diesem Zustand - hätte ich vermutlich in jeder Klamotte schlafen können.

Es fühlte sich so an, als hätte ich gerade erst die Augen geschlossen, als es an meiner Tür klingelte. Mehrfach. Energisch. Ich schreckte auf und landete unsanft auf meinem Parkettboden, bevor ich mich murrend aufraffte und zur Tür torkelte: "Weißt du eigentlich, wie spät es ist?!", lallte ich genervt, als ich Jakob vor mir stehen sah, welcher sofort irritiert die Stirn verzog: "Gleich halb neun morgens?", antwortete er rhetorisch, bevor er die Nase rümpfte: "Sag mal, bist du etwa schon betrunken?!" - "Immer noch, mein Freund, immer noch. Das ist ein Unterschied", nuschelte ich breit grinsend, während ich nach vorne und hinten schwankte, meine Augen immer mal wieder zusammenkniff, um Jay zu fokussieren und ihn erkennen zu können. "Seit wann bist du denn wieder zuhause?" - "Vielleicht so...halb acht. Oder acht. Ich weiß nicht. Ist doch auch nicht so wichtig." Er kam einen Schritt auf mich zu und zog eines meiner Lider hoch, die mir immer wieder zufielen: "Hast du etwa gekifft?" Darauf erhielt er keine Antwort. Ich hätte ihm auch keine geben können - ich weiß nicht, was ich getan habe. Die Erinnerungen an den letzten Abend und die letzte Nacht waren so lückenhaft, wie meine hängengeblieben Französischkenntnisse.
"Alter, du gehörst unter die Dusche", murmelte Jakob genervt und schob mich in meine Wohnung. Er entledigte sich seines Rucksackes, der mir erst jetzt auffiel, seiner Jacke und seiner Schuhe, bevor er mich am Handgelenk packte und mich hinter sich her ins Bad zog. "Zieh dich aus und werd diesen bestialischen Gestank los, Strate", forderte Jakob mich auf. Er klang fürsorglich und gleichzeitig so, als ob er momentan eigentlich nicht den Kopf dazu hätte, sich um seinen sturzbetrunkenen besten Freund zu kümmern. Mir war selbst bewusst, dass ich es definitiv mehr als übertrieben hatte, aber wenn man sich mit alten Schulfreunden trifft, die man teilweise über fünfzehn Jahre lang nicht mehr gesehen hat, kann es schon vorkommen, dass man nun mal all die Partys an einem Abend nachholt, die man in den vergangenen fünfzehn Jahren nicht zusammen erlebt hat.
Ich wollte Jakobs Aufforderung folgen, doch scheiterte bereits an den Knöpfen meines Hemdes, die sich schlichtweg nicht öffnen ließen. Jakob stand mir gegenüber und wollte wahrscheinlich nur abwarten, ob ich ihn verstanden hatte, bevor er mich alleine lassen konnte. Doch jetzt seufzte er, rieb sich mit einer Hand durchs Gesicht und kam auf mich zu: "Hey, schon okay, Johannes. Ich helf' dir." Ich senkte beschämt den Blick und beobachtete Jakobs Finger dabei, wie sie geschickt einen Knopf nach dem nächsten öffneten. "Tut mir leid", nuschelte ich, als er mir mein Hemd von den Armen strich. Seine kalten Hände legten sich auf meine Schultern und ich war gezwungen ihn anzusehen; kein Weg führte an dem Blau seiner Augen vorbei. Dieses Blau, das mich schon immer an das Meer erinnerte. In genau diesem Moment wahrscheinlich mehr, als je zuvor. Mein betrunkenes Gehirn wünschte sich mir mit Jakob an den Strand. Mit ihm schwimmen. In der Sonne liegen. Unbeschwert sein.
"Es ist alles in Ordnung, Johannes. Du musst dich nicht bei mir entschuldigen. Du musst einfach nur dringend duschen, hm?" Ein aufmunterndes Lächeln zierte sein Gesicht und ich nickte einmal kräftig, wobei mir extrem schwindelig wurde und ich sicherlich das Gleichgewicht verloren hätte, hätte Jakob mich nicht immer noch an den Schultern festgehalten. Nach noch einigen Sekunden des intensiven Augenkontakts, ließ er mich vorsichtig los, zögerte einen kurzen Moment und widmete sich dann aber meiner Hose, bei der er den Gürtel und den Knopf öffnete: "Den Rest schaffst du alleine, oder?" Ich zuckte mit den Schultern, nickte jedoch anschließend. "Okay, ich warte dann draußen." Und damit steuerte er auf den Flur zu. Doch gerade, bevor er die Tür erreichte und die Klinke hinunterdrückte, brachte ich ein schwaches "Jakob?" hinaus - so leise, dass es mich wunderte, als er sich zu mir umdrehte und mich fragend ansah. Mit meiner einen Hand stützte ich mich am Waschbecken ab, während ich die Frage aussprach, die mich bereits länger verfolgte: "Ist es schlimm für dich?" Irritiert zog Jakob seine Augenbrauen zusammen: "Dass du so betrunken bist?" - "Ist es schlimm für dich, dass ich schwul bin?" Es brauchte scheinbar einige Sekunden, bis die Frage bei Jakob ankam, er einen entsetzten Gesichtsausdruck aufsetzte und seine Stimme sich bei einem simplen "Was?!" überschlug. "Johannes, wie kommst du auf so einen Blödsinn? Und warum ausgerechnet jetzt? Ich weiß davon doch schon seit drei Jahren." - "Vielleicht ekelst du dich ja vor mir...", murmelte ich, wobei mir Tränen in die Augen stiegen. Das war tatsächlich ein wirklich häufiger Gedanke von mir. Ich hatte das Gefühl, dass Jakob mehr auf Abstand ging, nachdem ich ihm von meiner Sexualität erzählt hatte. Er sprang seltener überraschend auf meinen Rücken, wenn ich irgendwo auf ihn wartete und er von hinten angeschlichen kam. Und irgendwann wurde daraus nur noch eine Umarmung zur Begrüßung, die auch immer kürzer wurde. Er legte sich im Tourbus nicht mehr in meine Koje, wenn er betrunken war. Auch in Hotels teilte er sich immer öfter ein Zimmer mit Kris oder Niels, anstatt mit mir, so wie es früher immer gewesen ist. Albernheiten, bei denen wir einfach spaßeshalber 'rumturtelten, wurden immer seltener.
"So ein Schwachsinn! Schwul-sein ist doch vollkommen in Ordnung! Das ist..." Er stockte, wandte seinen Blick von mir ab und sprach plötzlich viel ruhiger und leiser: "Daran ist doch überhaupt nichts schlimmes." Es klang beinahe schon eher wie eine Frage, als eine Feststellung und Jakob wirkte plötzlich geistesabwesend, als würde er sich seine gesagten Worte selbst noch ein paar mal durch den Kopf gehen lassen. Und so schwieg er, bis er aus seinen Gedanken wieder auftauchte und mich wieder ansah: "Geh duschen, Jo", bat er mich sanft und verschwand aus meinem Badezimmer.

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