Johaniels

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~ Johannes' Sicht ~

Völlig übermüdet saß ich neben Kris auf dem Beifahrersitz und starrte gedankenverloren ins verschneite Nichts, während Kris leise zu den Weihnachtsliedern im Radio mitsang und sich auf die Straße konzentrierte. Wir zwei hatten gerade ein ziemlich zähes Interview hinter uns, an dem ich nur rege teilgenommen hatte. Kris und alle anderen Menschen aus meinem Umfeld haben meine geistige Abwesenheit in den letzten Wochen allerdings schon genug zu spüren bekommen, sie hinterfragt und dennoch keine vernünftige Antwort bekommen, weshalb der Gitarrist dieses Mal gar nicht erst nachhakte, ob alles okay sei. Ich war ihm dankbar dafür. Ich wollte einfach nur nach Hause und den Schlaf nachholen, den ich dringend benötigte, nachdem ich seit Wochen kaum ein Auge zu bekommen hatte. Weihnachten stand in neun Tagen bevor und ich freute mich bereits jetzt schon auf den Moment, an dem die Feiertage offiziell vorbei waren.
"Mach's gut. Danke fürs Mitnehmen", lächelte ich knapp, als Kris vor meiner Wohnung hielt und ich die Autotür öffnete. Er nickte mir kurz zu, wobei ich Sorge in seinen dunklen Augen aufblitzen sah. Ich erkannte auch den Drang danach, zu fragen, was mit mir nicht stimmte, doch Kris unterdrücke diesen; er kannte mich nach all den Jahren gut genug, um zu wissen, dass ich mich immer bloß weiter verschließen würde, wenn ich ohnehin schon in den letzten Wochen kein Wort gesagt hatte.

Ich trottete auf die andere Straßenseite auf die Haustür zu, öffnete im Treppenhaus den Briefkasten mit der Aufschrift Strate und fischte einen Stapel Post hinaus. Ich sortierte die Werbungen direkt aus und schmiss sie in den dafür vorgesehenen Mülleimer, blickte einen kurzen Moment auf die zwei Rechnungen, die ich empfangen hatte, und steckte diese anschließend hinter den dritten und letzten Umschlag in meinen Händen; ein pastellblaufarbender Brief mit meinem Namen und meiner Anschrift. Stirnrunzelnd drehte ich jenen in meinen Händen, um einen Absender auszumachen - vergebens.
Ich trottete die Treppen hoch, bis in den dritten Stock, schloss dort meine Wohnungstür auf und entledigte mich meines Mantels und meiner Schuhe, bevor ich meine Schlüssel und die beiden Rechnungen auf den Küchentisch legte und mir es in meinem Wohnzimmer auf der Couch bequem machte. Vorsichtig öffnete ich den Umschlag und mein Atem stockte, als ich den Inhalt herauszog und die Vorderseite begutachtete; 'Wir heiraten!', stand in weißer verschnörkelter Schrift auf dem blassen Fotohintergrund, welcher Nicci und Niels zeigte, wie sie küssend an einem Strand standen. Es war so ein wunderschönes Bild, dass ich mir einbildete, das Rauschen der Wellen und das Krähen der Möwen zu hören, während Niccis blonde Haare im sanften Wind wehen und Niels sie noch enger an sich presste, als er es ohnehin schon tat.
Ich zerstörte das Szenario, welches sich vor meinem inneren Auge abspielte, abrupt, indem ich die Einladung zerknüllte und auf den Tisch vor mir warf, ohne mir überhaupt die Rückseite durchgelesen zu haben, auf der sicherlich irgendein kitschiges Gedicht und Daten und Informationen zur scheinbar bevorstehenden Hochzeit standen. Ich wollte nichts davon wissen. Ich wollte nur, dass dieser unerträgliche Schmerz, der sich von der einen auf die andere Sekunde gebildet hatte, verschwindet.

Es ist nicht so, dass ich nichts von einer Verlobung gewusst hätte. Niels und Nicci sind jetzt seit über zwei Jahren schon verlobt und damals hatte ich mich sogar für die beiden gefreut. Irgendwie. Zumindest bis ich mir eingestehen konnte, etwas für den Gitarristen zu empfinden. Monatelang hatte ich diese Gefühle mit mir 'rumgeschleppt. Sie schienen mich fast schon erdrückt zu haben. Doch dann - vor sieben Wochen und drei Tagen - hatte ich all meinen Mut zusammengefasst; ich bin zu Niels gefahren, während Nicci mit ein paar Freundinnen im Urlaub war, und habe ihm gestanden, dass ich mich vermutlich schon vor Ewigkeiten in ihn verliebt hatte. Er hatte lediglich auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Küchentisches gesessen und mich mitleidig angestarrt, während kein Wort über seine Lippen gekommen ist. An sich ist seine Schweigsamkeit zwar nichts Neues, aber in diesem Moment ist diese Stille so unerträglich gewesen, dass ich irgendwann aufgesprungen war und aus der Wohnung geflüchtet bin. Seitdem hatte ich Niels nur noch ein einziges Mal bei einem Bandmeeting gesehen, wo wir uns nicht einmal richtig in die Augen sehen - geschweige denn, miteinander reden - konnten. Ansonsten gingen wir uns komplett aus dem Weg und ich hatte nichts mehr von ihm gehört - bis heute.
Wie gesagt; von der Verlobung wusste ich bereits. Jedoch haben die beiden nie angefangen, auch nur im geringsten ihre Hochzeit zu planen; "Das hat ja noch Zeit", hieß es immer. Und jetzt plötzlich - sieben Wochen und drei Tage nach meinem Liebesgeständnis - hatte ich die Einladung zerknüllt vor mir liegen.

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