Kapitel 1

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2005

Das Licht flackerte an und erhellte einen weiß gefliesten Flur. Ruhiges Schnauben schlafender Pferde drang aus einigen Zellen, die an einen nahezu kahl wirkenden Gang angrenzten und die Luft mit einer beinahe bedrückenden, stoischen Ruhe erfüllten.

Müde standen sie mit hängenden Köpfen in den Ecken ihrer Zellen. Sie hatten bereits aufgegeben, gegen die schweren Metalltüren anzukämpfen, die sie von der Außenwelt abschirmten. Ihre Ohren zuckten nur, als sie bemerkten, dass vier Wissenschaftler den Gang betraten, der tief unter der Erde aus dem Grundgestein gefräst worden war und dessen weiß angestrichene Felsdecke sich hoch über ihren Köpfen wölbte. 

In ihrer Mitte führten sie einen schneeweißen Hengst mit dunkelgrauer Stehmähne, der sich heftig gegen die Führung der zwei viel stärkeren Hengste wehrte. Sein Gesicht war gezeichnet von Furcht, sein Herz gebrochen. Doch sein Geist war es nicht. Er würde nicht aufgeben und für sein Recht auf Freiheit kämpfen, so, wie er es immer schon getan hatte.

Die vier weiß bekittelten Hengste ließen seine Fluchtversuche jedoch kalt. Grob zerrten sie den verängstigt wiehernden, weißen Hengst in einen abgesonderten Raum, abseits der anderen Zellen. Darin befand sich eine Ausbuchtung in der Felswand, deren Front mit einer mindestens einen Meter dicken Panzerglasschicht verstärkt und an der ein Schild mit der Aufschrift A3360 angebracht war. 

In diese Zelle stießen sie den weißen Hengst hinein und verriegelten drei Sicherheitstüren hinter ihm, noch bevor er herum springen und einen von ihnen überwältigen konnte.

Donnernde Tritte hagelten auf die erste der drei Türen ein, als der weiße Hengst zornig versuchte, sich selbst zu befreien. Doch er merkte recht schnell, dass es keinen Zweck hatte, stellte sich in eine Ecke seines Raumes und presste mit Tränen in den Augen seinen Kopf an die Wand. 

Was hatte er nur getan? Er hatte nur versucht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und nun war er hier. Alleine. Und jetzt dachten alle vermutlich, dass er tot sei. Seine Eltern, seine Freunde. Er würde sie niemals wiedersehen. 

Ein Zittern durchlief seinen Körper, als er schluchzend in die Knie sank und Leib und Seele ausschüttete. Er wusste nicht, was ihn erwartete, doch er hätte seinen Schweif darauf verwetten können, dass diese Teufel von den Hancester Science Laboratories nichts Gutes im Sinn hatten. Sie und ihr unbändiger Drang, Pferde zu brechen, sie gegeneinander auszuspielen und zu ihren Marionetten zu machen. Die manipulativste Gewalt von allen. Und mittendrin - er - der niemals damit gerechnet hatte, dass man ihn im Leben so sehr hintergehen würde.

Von diesem Tag an wurde der weiße Hengst stets von jeglichen anderen Pferden abgeschirmt, alleine in seiner Hochsicherheitszelle vor sich hin schmachtend. Die ersten Tage waren für ihn noch erträglich. Doch mit der Zeit lastete die Einsamkeit auf seiner Seele und brachte Schuldgefühle aus alten Zeiten zum Vorschein, die ihn abstumpften und wie eine leere Hülle werden ließen. Er verlor den Anschluss an die Welt und er verlor vor allem sich selbst. Und er verlor auch den Glanz in den Augen, die Hoffnung darauf, jemals wieder das Licht des Tages und die Sterne der Nacht erblicken zu können. Eingekerkert in eine weiße Hölle.

Nach und nach begann er zu verdrängen und zu vergessen, bis er an einem Punkt ankam, an dem er selbst nicht mehr wusste, wer er überhaupt war. 

Den einzigen Kontakt zu Artgenossen hatte er, wenn ihm einer der Wissenschaftler einen Korb voll Heu unter dem Türschlitz hindurch schob oder, wenn er für sogenannte Behandlungen aus der Zelle gezerrt wurde. 

Dass diese Behandlungen mehr experimenteller Natur waren, wurde ihm dabei relativ schnell bewusst, als man ihn nur noch mit der Nummer seiner Zelle ansprach. A3360. Eine Nummer, die sein Leben für immer verändern sollte.

A3360 - Opfer der Wissenschaft (8 Kapitel Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt