Alex

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Überall um mich herum ist Wasser. Sogar in meiner Nase ist Wasser. Aber das Seltsame ist, ich kann hier atmen. Unter Wasser. Und überhaupt fühle ich mich anders. Beinahe, als würde ich träumen.
Über mir erkenne ich die Umrisse eines Jungen, dessen Füße im Wasser hin und her baumeln. Ich entscheide mich, zu ihm zu schwimmen.
Als ich auftauche, erkenne ich den Jungen als Hugo. Seine Augen sind offen und er scheint hellwach zu sein.
„Du liegst doch im Koma", stottere ich verwirrt.
„Ja, das tue ich", bestätigt er, „und das hier ist meine Zwischenwelt. Und bis du entweder aufwachst oder stirbst, bist du auch hier."
„Ich sterbe?", wiederhole ich ungläubig.
Hugo zuckt die Achseln. „Nicht unbedingt. Aber möglich wäre es schon. Im Moment versuchen die Ärzte allerdings noch, dich zurückzubringen."
Erst jetzt erkenne ich, dass wir uns in einem Schwimmbad befinden. „Warum ist deine Zwischenwelt ein Schwimmbad?"
„Weil ich hier meinen Unfall hatte", antwortet Hugo.
Oh Mann, ich muss wohl halluzinieren. Immerhin ist es unmöglich, dass ich in Hugos sogenannter Zwischenwelt bin. Wahrscheinlich werde ich noch verrückt und das liegt alles an diesem fürchterlichen Krankenhaus.
„Du glaubst mir nicht", stellt Hugo fest.
„Wie kann ich denn auch einem kleinen Jungen in einem Schwimmbad glauben, der eigentlich im Koma liegt?"
„Du musst mir ja nicht glauben", entgegnet er. „Weißt du, manchmal existiert etwas nur, wenn man daran glaubt."
„Das verstehe ich nicht", sage ich.
„Na, das ist doch ganz einfach. Wenn du daran glaubst, dass dieses Gespräch existiert, dann tut es das auch. Und wenn du daran glaubst, dass du wieder aufwachst, dann wirst du das auch."
Ich runzle die Stirn. „So simpel ist das? Wenn ich daran glaube, wache ich einfach auf?"
Hugo nickt. „Aber es reicht nicht, wenn du dir einredest, dass du daran glaubst. Du musst tatsächlich daran glauben."
„Und warum wachst du nicht auf?"
„Das Problem ist, dass ich nicht wirklich daran glauben kann, dass ich wieder aufwache. Aber ich kann auch nicht glauben, dass ich sterbe."
So ganz verstanden habe ich das noch immer nicht, trotzdem nicke ich. Und eigentlich glaube ich daran, dass ich wieder aufwache. Warum sollte ich auch sterben? Ich bin ja gerade mal fünfzehn Jahre alt. Da erkenne ich außer dem Schwimmbad noch etwas anderes. Es sieht aus wie die Zimmerdecke eines Krankenhauses.
„Viel Glück, Alex", sagt Hugo, dann verblasst er.

Das erste, das ich erkennen kann, ist, dass überall Ärzte um mich herumstehen. Ein paar von ihnen machen nun erleichterte Gesichter.
„Wo bin ich?", frage ich.
„Wir mussten dich wiederbeleben", erklärt eine Ärztin.
„Wiederbeleben?", wiederhole ich. „Das heißt, ich war tot?"
„Das ist eine komplizierte Angelegenheit", erwidert die Ärztin. „Aber fürs erste bist du stabil."
„Fürs erste? Ist das Ihr Ernst?"
Sie seufzt. „Wir wissen noch nicht genau, was mit dir ist. Bis wir das wissen, wirst du hierbleiben müssen. Aber vielleicht ist es ja ganz harmlos."
„Und wenn nicht?", frage ich.
„Zuallererst werden wir die Ergebnisse abwarten, dann sehen wir weiter."
Die meisten Ärzte sind jetzt aus dem Raum gegangen, nur die Ärztin, die mit mir redet, ist noch hier.
„Kann ich wieder in mein eigenes Zimmer?", will ich wissen.
Sie nickt. „Aber du darfst ab jetzt auf keinen Fall mehr ohne Rollstuhl unterwegs sein. Das musst du ernst nehmen, Alex."
„Schön", seufze ich.

Vor meinem Zimmer lehnt Johanna an der Wand. Was will die denn hier. Als sie mich sieht, kommt sie mir entgegengelaufen.
„Ein Glück, dass es dir wieder besser geht", meint sie.
Ich runzle die Stirn. „Warum interessiert dich das überhaupt?"
„Naja, ich denke, man wünscht es niemandem, dass er stirbt", erwidert sie.
Wahrscheinlich hat sie recht. Obwohl sie mich aufregt, würde ich nicht einmal ihr den Tod wünschen. „Okay."
Sie lacht. „Okay? Ist das etwa alles, was du dazu zu sagen hast?"
„Ich weiß nicht so recht, was man in so einer Situation sagt", erkläre ich.
„Weißt du was, ich eigentlich auch nicht", meint sie. „Aber auf jeden Fall wollte ich mich noch entschuldigen. Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen."
Ach, deswegen ist sie also hier. „Darum geht es dir also. Du willst dein Gewissen beruhigen."
„Was? Nein? Ich will dir nur sagen, dass es mir leid tut. Bevor du gestern zusammengebrochen bist, wollte ich einfach nur, dass du dich so mies wie möglich fühlst. Und das war falsch von mir. Ich hab es wirklich zu weit getrieben."
Doch ab dem Wort „gestern" höre ich ihr gar nicht mehr wirklich zu. „Warte mal, wieso gestern? Das war doch heute, oder nicht?"
Johanna schüttelt den Kopf. „Nein, du bist einen ganzen Tag lang weg gewesen."
Ich runzle die Stirn. „Einen ganzen Tag? Das kam mir vor wie ein paar Minuten!"

„Ich denke, ich sollte dann mal gehen", sagt sie und will sich umdrehen.
„Warte." Was mache ich da eigentlich? Warum habe ich das gesagt? Ich will nicht, dass sie bleibt. Ich will allein sein. Aber da ist noch was, das ich loswerden muss. „Ich sollte mich wohl auch entschuldigen. Ich habe mich wirklich wie ein arroganter Arsch verhalten."
Johanna nickt. „Ja, das hast du allerdings. Ich mich aber auch wie eine kleine Besserwisserin."
„Könnten wir das alles vielleicht einfach vergessen?", frage ich. „Also die ganzen Streitereien meine ich." Eigentlich weiß ich selbst nicht, warum mir das so wichtig ist, aber ich will nicht, dass sie mich hasst.
„Unter einer Bedingung", erwidert sie.
Abwartend sehe ich sie an. „Und die wäre?"
„Ich darf noch einmal arroganter Arsch zu dir sagen."
Ich lache. „Wenn ich dich noch einmal kleine Besserwisserin nennen darf."
Sie nickt. „Okay, du arroganter Arsch."
„Okay, du kleine Besserwisserin."
Sie lächelt und ich erwidere das Lächeln. Da wird mir klar, dass ich sie nicht hasse und auch noch nie gehasst habe. Für einen Moment blicken wir uns tief in die Augen.
„Äh, ich muss jetzt echt gehen", sagt sie dann und dreht sich um.
Als ich ihr nachsehe, kann ich nicht anders, als zu lächeln.

Du arroganter Arsch! {Club der roten Bänder}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt