Alex

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Ich fühle mich völlig leer. Vor ein paar Minuten habe ich mich noch so gefreut, dass es mir jetzt hoffentlich bald besser geht, nur damit dann gleich der nächste Schock kommt. Nie hätte ich Hugo dazu ermutigen dürfen, zu springen. Dann wäre er jetzt noch am Leben und würde vielleicht irgendwann wieder aufwachen. Aber vielleicht hätte das seinen Tod auch nur hinausgezögert und es war besser so. Ich glaube, egal was man tut, fragt man sich später immer, was gewesen wäre, wenn man es anders gemacht hätte. Jedenfalls kann ich es jetzt nicht mehr rückgängig machen. Ich muss einfach damit leben. Die Frage ist nur, wie ich das schaffen soll. Immerhin bin ich doch irgendwie für Hugos Tod verantwortlich. Oder nicht? Hugo würde mir jetzt sicher sagen, dass das allein seine Entscheidung war und ich nichts dafür kann. Doch selbst wenn er das wirklich sagen würde, würde ich ihm nicht glauben.
„Irgendwie wird Hugo immer weiterleben", meint Jo. „Nämlich hier drinnen." Sie legt ihre Hand auf mein Herz.
Ich lächle. Es fühlt sich gut an, wenn ihre Hand auf meinem Herzen liegt. Es ist fast so, als würde sie versuchen, Hugo in meinem Herzen aufzuwecken oder so. Ich weiß nicht, wie ich das anders erklären sollte. Sie holt mit dieser Geste und ihrem wundervollen Lächeln plötzlich Erinnerungen an Hugo hervor.
„Das weiß ich", erwidere ich. Ich muss es nur wollen. Ich darf die Erinnerungen an ihn nicht verdrängen, nur weil es dann leichter wäre.
Da schmiegt sich Jo eng an mich. „Weißt du, das erste Mal, das ich dich gesehen habe, hätte ich behauptet, dass du jemand bist, dessen Herz ein kalter Stein ist. Jetzt weiß ich, dass du ein wirklich großes Herz hast. Aber weißt du, niemand tut dir etwas, wenn du das auch mal zeigst. Du denkst vielleicht, dass du dadurch schwach wirkst. Aber das tust du nicht. Dadurch wirkst du menschlich."
Stirnrunzelnd blicke ich sie an. „Sorry, aber ich kann dir nicht so ganz folgen."
Sie seufzt. „Ich denke, deine Unfreundlichkeit gegenüber anderen ist eine Art Schutzmechanismus, damit du nicht verletzt wirst, da dir so auch niemand zu nahe kommen kann."
So habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber ich glaube, sie hat recht. „Du kennst mich ja besser, als ich mich selbst kenne."
Sie lacht. „Ja, das ist eine typische Eigenschaft von Mädchen. Daran solltest du dich schon mal gewöhnen."
Auch ich lächle. „Ich glaube nicht, dass mir das schwerfällt. Diese Eigenschaft ist nämlich ziemlich süß." Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Wort süß zuvor noch nie aus meinem Mund gehört habe. Doch ich meine es tatsächlich so.
Da wird ihr Blick wieder ernst. „Wir sollten zurückgehen. Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen um dich."
Ich nicke und stehe auf. Dann greife ich nach Jos Hand und ziehe sie auch hoch. „Lust auf ein Wettrennen?" Herausfordernd grinse ich sie an.
„Musst du dich denn nicht noch schonen?", fragt sie besorgt.
„So ein kurzes Wettrennen wird mich schon nicht umbringen", entgegne ich. „Also, was ist?"
Sie seufzt. „Meinetwegen. Bis zur Glastür?"
„Okay", erwidere ich. „Auf drei." Ich werfe ihr einen kurzen Blick zu. „Eins, zwei, drei."
Wir rennen los. Jo ist ein Stück vor mir. Oh Mann, ich wusste nicht, dass sie so schnell laufen kann. Andererseits weiß ich, dass sie viel Sport macht. Aber da hole ich sie langsam ein. Werde ich schneller? Oder eher sie langsamer?
Wir sind fast bei der Glastür, als Jo plötzlich zu Boden stürzt. Erschrocken drehe ich mich zu ihr um. „Jo, ist alles in Ordnung?"
Sie antwortet nicht, sondern atmet nur unregelmäßig. Ist es ein gutes Zeichen, dass sie bei Bewusstsein ist?
Besorgt beuge ich mich über sie. „Jo, was ist mit dir?"
Doch sie scheint mir nicht antworten zu können. Vielleicht bekommt sie keine Luft. Oder ihre Schmerzen sind zu stark.
„Ich bin gleich wieder da", sage ich zu ihr und laufe den Gang entlang. Hier muss doch irgendwo so ein gottverdammter Arzt sein!
Da sehe ich einen! Ich glaube, es ist Dr. Gruber. So weit ich weiß, ist er sogar von der Station für Essstörungen. Das ist gut. Er kann Jo bestimmt helfen.
„Herr Dr. Gruber", rufe ich schon von weitem, „warten Sie! Ich brauche Ihre Hilfe?"
Überrascht dreht er sich zu mir um. „Und wer bist du? Dich habe ich hier noch nie gesehen. Und du siehst auch nicht magersüchtig aus."
Ungeduldig wippe ich mit dem Fuß auf und ab. „Jetzt kommen Sie schon! Jo ist gestürzt! Sie braucht Hilfe!"
„Jo?" Er runzelt die Stirn. „Du meinst Johanna?"
Ich nicke. Oh Mann, wie lange will der denn noch diskutieren. „In diesem Krankenhaus ist es wohl allen egal, wenn es jemandem schlecht geht, oder?", schreie ich ihn an. „Jo braucht Ihre Hilfe! Jetzt!"
Langsam scheint er zu begreifen, doch er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. „Beruhige dich erstmal. Und dann zeigst du mir, wo Johanna gestürzt ist."
Ich soll mich beruhigen? Ich kann mich aber nicht beruhigen! „Da vorne in dem Gang! Kommen Sie!"
Nun folgt er mir. Ich biege um ein paar Ecken, bis ich Jo am Boden liegen sehe. In ihren Augen stehen Tränen und sie ringt immer noch nach Luft.
„Was hat sie?", frage ich Dr. Gruber nervös. „Warum ist sie plötzlich hingefallen? Ist das gefährlich? Kriegen Sie sie wieder hin?"
Er legt mir eine Hand auf die Schulter. „Ganz ruhig, Junge." Dann beugt er sich zu Jo.
Langsam schafft sie es wieder, normal zu atmen. Aber plötzlich bricht sie in Tränen aus. „Das war so furchtbar! Ich habe keine Luft mehr bekommen." Sie schluchzt. „Das ist mir vorher noch nie passiert."
Dr. Gruber hilft ihr auf und ich nehme sie dann in den Arm. Doch ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Aber das übernimmt Dr. Gruber für mich. „Das ist nichts ungewöhnliches, wenn du eine Weile magersüchtig bist. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das passiert."
Wütend starre ich ihn an. „Und dagegen können Sie gar nichts tun?"
Jo nimmt meine Hand. „Alex, lass gut sein. Bitte."
Aber ich ziehe meine Hand weg. „Denken Sie etwa, ich lasse zu, dass Sie meine Freundin umbringen?"
Dr. Gruber seufzt. „Ich verstehe deine Wut, Alex. Aber der Zusammenbruch an sich ist nichts schlimmes."
Darauf folgt noch ein aber, da bin ich mir sicher. „Was ist dann das schlimme?"
„Es ist ein Zeichen dafür, dass es Johanna schlechter geht." Er sieht sie besorgt an. „Du brauchst Ruhe, Johanna. Es ist nicht gut für dich, wenn du ständig im Krankenhaus umher rennst. In den nächsten Tagen wirst du dein Bett nur noch zu den Mahlzeiten verlassen. Hast du verstanden?"
Jo nickt kleinlaut. „Okay."
„Und keine Besuche", fügt Dr. Gruber mit einem Seitenblick auf mich hinzu.
Da weiten sich Jos Augen. „Das ist nicht fair! Es schadet mir doch nicht, Besuch zu haben!"
„Es ist ja nur für ein paar Tage", meint Dr. Gruber. „Komm, Johanna. Ich bringe dich auf dein Zimmer."
Widerwillig folgt sie ihm. Dann dreht sie sich noch einmal zu mir um und sieht mich hilflos an. Ich forme mit meinen Lippen die Worte Ich hole dich da schon raus.
Dann verschwindet sie um die Ecke. Ich seufze. Oh Mann, dieses Wettrennen war echt die blödeste Idee, die ich je hatte. Jetzt darf ich Jo nicht mehr sehen.
„Alex!", höre ich plötzlich die Stimme von Charlotte und sie kommt auf mich zu. „Wo ist Jo? Wollte sie nicht zu dir?"
Ich seufze. „Wir haben so ein blödes Wettrennen gemacht. Dabei hatte sie einen Schwächeanfall und dieser bescheuerte Dr. Gruber hat ihr jetzt Bettruhe verordnet."
Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen um Jo. Ich kenne sie zwar nicht gut, aber so wie ich das sehe, verkraftet sie einiges."
Ich schüttle den Kopf. „Du verstehst das nicht. Um ehrlich zu sein, verstehe ich es auch noch nicht so ganz. Aber Jo ist magersüchtig. Und das schlimmste, was sie sich vorstellen kann, ist, sich nicht zu bewegen und auch noch zu essen."
Charlotte seufzt. „Aber wenn sie weiterhin viel Sport macht und nichts isst, wird sie nie gesund. Verstehst du das denn nicht?"
„Sie ist doch gesund! Nur die ganzen Ärzte in diesem Krankenhaus sind unfähig, das zu erkennen!"
„Vielleicht solltest du Jo mal fragen, wie gefährlich ihre Krankheit wirklich ist", schlägt Charlotte vor.

Du arroganter Arsch! {Club der roten Bänder}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt