Jo

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Einige aufgebrachte Ärzte laufen hektisch an mir vorbei. Was ist da los? Was ist passiert? Hat das etwas mit Alex zu tun?
Auch Alex' Eltern sehen sich beunruhigt um und scheinen sich zu fragen, ob es dabei um ihren Sohn geht.
Aber die Ärzte rennen in eine andere Richtung als zum OP-Saal. Das ist wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Doch so weit ich das erkennen kann, laufen sie zu Alex' Zimmer. Das Zeichen ist wohl eher nicht so gut. Ich muss wissen, was da los ist.
„Ich bin gleich zurück", sage ich zu Alex' Eltern und folge einem der Ärzte. Er geht tatsächlich in Alex' Zimmer. Dort sind schon ein paar andere Ärzte. Da erkenne ich, dass sie nicht wegen Alex hier sind. Sie alle stehen um Hugos Bett. Was ist da wohl passiert?
Plötzlich läuft eine Frau mit tränenüberströmten Wangen aus dem Zimmer. Ich habe sie schon ein paar mal gesehen. Das ist Hugos Mutter.
„Frau Krüger, was ist denn passiert?", frage ich besorgt.
Sie schluchzt. „Hugo."
Meine Augen weiten sich. „Ist er...?"
Sie nickt. Dann lässt sie mich stehen.
Insgeheim bin ich froh, dass es Alex nicht erwischt hat. Zumindest noch nicht. Und dafür schäme ich mich. Aber ich kann es nicht ändern. Ich kann nicht um Hugo trauern, weil ich zu froh bin, dass Alex noch am Leben ist.
Ich muss zurück zum OP-Saal. Vielleicht gibt es ja schon was neues von Alex!
Als ich dort bin, redet gerade einer der Ärzte mit seinen Eltern. Ich wage es nicht, näher zu treten. Eigentlich will ich gar nicht wissen, wie es ausgegangen ist. Ich habe Angst davor.
Aber da lächelt Charlotte mich an und winkt mich zu sich. Heißt das, Alex hat die OP gut überstanden?
Schnell gehe ich zu ihnen. „Er muss sich noch ein wenig erholen", erklärt der Arzt, „aber wenn alles gut läuft, kann er in spätestens zwei Wochen entlassen werden."
Plötzlich geht die Tür auf und eine Krankenschwester schiebt Alex in seinem Krankenbett aus dem OP-Saal. „Alex!", rufe ich glücklich und laufe zu ihm. „Ich wusste, dass du es schaffst."
Müde lächelt mich Alex an. „Ich muss zugeben, dass ich mir da nicht immer so sicher war. Aber du hast mir Kraft gegeben."
Da kommen auch Alex' Eltern zu ihm ans Bett. Charlotte laufen Tränen über die Wangen. „Ich bin so froh", schluchzt sie.
„Wie wäre es, wenn wir in mein Zimmer gehen, oder so?", schlägt Alex lachend vor. „Da kann man besser plaudern als hier auf dem Gang."
Oh. Was ihn in seinem Zimmer erwartet, wird ihm sicher nicht gefallen. Ich denke nicht, dass er und Hugo beste Freunde waren, aber er war immerhin sein Bettnachbar.
Ich werfe der Krankenschwester, die Alex' Bett schiebt, einen kurzen Blick zu. Auch sie scheint zu überlegen, was sie jetzt tun soll.
„Wollt ihr nicht lieber in die Cafeteria gehen?", fragt sie dann.
Ich nicke. „Das ist eine wirklich gute Idee. Findest du nicht auch, Alex?"
Er sieht an sich herab. „Im Krankenbett? Wir können später gerne noch in die Cafeteria gehen, aber ich will jetzt erst mal in mein Zimmer."
„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist", rutscht es mir plötzlich heraus.
Alex runzelt die Stirn. „Warum?" Dann weiten sich seine Augen plötzlich, als hätte er etwas furchtbares erkannt. „Geht es um...ist es wegen Hugo?"
Ich senke den Blick, da ich nicht weiß, was ich sagen soll. Was sagt man denn auch in so einer Situation?
Die Schwester nickt leicht. „Er ist vor ein paar Minuten ganz plötzlich gestorben."
Alex sieht nicht so aus, als würde es ihn überraschen, doch in seinem Blick liegt eine tiefe Traurigkeit. Und aus seinem Gesicht ist auf einmal alle Farbe gewichen.
Vorsichtig berühre ich seine Schulter. Er zuckt zusammen und zieht seinen Arm weg. „Lass mich!" Dann steht er mit leerem Blick auf und geht zu seinem Zimmer. Dabei sieht er beinahe ein wenig wie ein Schlafwandler aus.
„Ich wusste nicht, dass sich Alex und Hugo so gut verstanden haben", sagt Charlotte leise.
„Zu seinem Bettnachbarn hat man immer irgendeine besondere Verbindung", erkläre ich, „selbst wenn man ihn nicht einmal richtig leiden kann. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran, dass jemand von einen auf den anderen Tag stirbt. Nur ist Alex dafür noch nicht lange genug hier. Er hat das noch nicht so erlebt wie ich."
Charlotte nickt. „Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn man sich früh genug daran gewöhnt, dass jeder Mensch irgendwann mal stirbt."
Ich zucke die Achseln. „Da bin ich mir nicht so sicher. Bestimmt ist es nicht schlecht, zu lernen, was Realität bedeutet. Aber ist es denn gut, wenn so viele Menschen hier sterben, dass man irgendwann gar keinen richtigen Schmerz mehr empfinden kann?"
„Ich denke, alles hat seine guten und auch seine schlechten Seiten", meint Charlotte.
„Ich bin nur froh, dass Alex endlich aus diesem deprimierenden Krankenhaus entlassen wird", erklärt Herr Breidtbach. „Dann muss er sich endlich nicht mehr mit den ganzen Kranken hier abgeben."
Sein Kommentar verletzt mich ein wenig. Die ganzen Kranken? Das bin ich also? Eine von den ganzen Kranken? Und Alex ist bald keiner mehr von den ganzen Kranken. Zumindest wenn die Operation jetzt wirklich geholfen hat. Ganz sicher ist es noch nicht. Deswegen muss er schließlich auch noch zwei Wochen zur Beobachtung bleiben. Aber ich bin mir sicher, dass er gesund wird. Er hat nämlich mehr Glück als ich. Viel mehr Glück. Ich dagegen werde weiterhin eine von den ganzen Kranken bleiben.
„Ich glaube, wir sollten mal nach Alex schauen", merkt Charlotte an. „Er scheint den Tod von seinem Freund nicht so gut zu verkraften."
Ich nicke. Das ist eine gute Idee. Nicht dass Alex noch auf irgendwelche dummen Gedanken kommt. Hier im Krankenhaus ist in solchen Fällen nämlich schon viel passiert. Von Angriff auf Ärzte bis zu versuchtem Selbstmord. Das ist natürlich nur der schlimmste Fall, aber vorgekommen ist es trotzdem schon.
Alex steht vor seinem Zimmer und blickt durch die Glasscheibe. Hugo liegt noch immer in seinem Bett. Eigentlich sieht er kaum anders aus als zuvor, als er noch im Koma lag, doch man erkennt trotzdem, dass kein bisschen Leben mehr in ihm ist. Er ist leichenblass und liegt ganz still da.
Ich stelle mich neben Alex. Da dreht er sich zu mir um, doch es ist, als würde er durch mich hindurchsehen. „Warum?" Seine Stimme ist leise, aber ich erkenne den Schmerz darin. Plötzlich beginnt er zu schluchzen.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu und nehme ihn in den Arm. Er vergräbt sein Gesicht in meiner Schulter und weint. Sanft streiche ich ihm über den Rücken. „Du bist nicht allein", sage ich leise zu ihm. „Wir stehen das zusammen durch."
„Danke", schluchzt er. Dann blickt er plötzlich auf und legt seine Lippen auf meine.
Ich schmecke etwas Salziges. Es sind die Tränen, die Alex über die Wangen strömen. Der Kuss fühlt sich seltsam an. Es ist, als würde er mich küssen, um sich abzulenken.
Da löst er sich ganz plötzlich wieder von mir. Er dreht sich auf dem Absatz um und läuft davon. Fassungslos starre ich ihm nach. Ich will ihm nicht nachrennen, weil es komisch wirken würde, aber ich habe Angst, dass er etwas unüberlegtes tut.
„Du solltest mit ihm gehen", meint Charlotte. „Auf dich hört er im Moment am ehesten."
Ich nicke. „Okay." Dann folge ich ihm. Er weiß, dass ich das tue. Das spüre ich. Aber er dreht sich nicht zu mir um. Er rennt einfach weiter. Erst vor der verschlossenen Tür, die nach draußen führt, bleibt er stehen und lässt sich dann auf den Boden sinken. Ich setze mich neben ihn.
Als Alex sich wieder einigermaßen gefasst hat, holt er tief Luft. „Du wunderst dich darüber, dass sein Tod so schlimm für mich ist, hab ich recht?"
Ich zucke die Achseln. „Naja, es ist nur, ich wusste nicht, dass ihr euch so gut versteht."
Er schüttelt den Kopf. „Das haben wir auch nicht wirklich. Zumindest nicht hier im Krankenhaus."
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. „Wo denn dann?"
„Du würdest es mir nicht glauben."
Was würde ich ihm nicht glauben. „Warum sollte ich dir das nicht glauben?"
Alex seufzt. „Schön, ich erzähle es dir. Bei meiner OP war ich in einem Schwimmbad. In Hugos Schwimmbad."
Ich runzle die Stirn. Haben die Ärzte bei der OP jetzt etwa sein Gehirn irgendwie durcheinandergebracht, oder wie?
„Es ist Hugos Zwischenwelt. Dort habe ich Hugo getroffen und wir haben uns ein wenig unterhalten. Er meinte, wenn ich das wirklich will, werde ich die OP überleben. Und ich wollte ihm helfen, dass er auch aufwacht. Ich habe zu ihm gesagt, dass er versuchen soll, vom Sprungturm zu springen. Er hat gemeint, dass da nur zwei Dinge passieren können: Entweder er wacht auf oder er stirbt. Naja, er ist das Risiko eingegangen. Und das Ergebnis kennst du ja."
Ich will ihm ja glauben. Das will ich wirklich. Aber ich kann es nicht so ganz. Was er erzählt, macht doch keinen Sinn.
„Du glaubst mir nicht", stellt Alex fest.
Ich seufze. „Ich sage ja nicht, dass du lügst, aber vielleicht hast du dir das einfach alles eingebildet."
Wütend springt er auf. „Ich habe mir das nicht eingebildet! Es ist zwar in meinem Kopf passiert, aber es war so!"
Kann das wirklich sein? Vielleicht hat Alex ja irgendeine Verbindung zu Hugo. Ich meine, ganz ausschließen würde ich es nicht. „Ich glaube dir."
„Und das sagst du nicht nur so?"
Ich schüttle den Kopf. „Ich meine es wirklich ernst. Es klingt zwar ein wenig weit hergeholt, aber warum sollte es nicht möglich sein?" Da erinnere ich mich plötzlich an etwas. „Ich hatte mal ein ähnliches Erlebnis, aber ich habe gedacht, ich hätte es mir eingebildet. Damals ging es mir ziemlich schlecht. Einmal bin ich sogar in Ohnmacht gefallen, weil ich zu wenig gegessen habe. Dann waren da um mich herum plötzlich jede Menge Leute. Meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und meine Zimmernachbarin Emma waren auf jeden Fall dabei. Meine Eltern haben mir ständig gesagt, dass ich mehr essen soll. Mein Bruder hat sich nur darüber aufgeregt, wie langweilig dieses Krankenhaus ist. Und Emma hat mir gesagt, dass ich auf keinen Fall gesund werden darf, weil sie nicht alleine hier sein will."
Alex nickt. „Okay, aber das ist nicht dasselbe wie bei mir."
„Aber so ähnlich", entgegne ich. „Ich will damit nur sagen, dass dieses Krankenhaus ziemlich verrückte Sachen mit einem macht." Ich lache. „Glaub mir, die Leute haben hier schon viel schrägere Geschichten erzählt als deine. Und trotzdem glaube ich ihnen."
„Danke", sagt Alex, „das bedeutet mir echt viel."

Du arroganter Arsch! {Club der roten Bänder}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt