Jo

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Als ich aufwache, ist es 8:50 Uhr. Das heißt, in zehn Minuten beginnt Alex' OP. Ich würde ihn vorher gerne noch sehen, aber ich denke nicht, dass das gut für ihn wäre. Und für mich vermutlich genauso wenig. Doch ich muss ihn einfach noch einmal sehen. Nur für den Fall, dass er tatsächlich stirbt.
Also stehe ich auf und ziehe mich schnell um. Ich muss mich wirklich beeilen, wenn ich ihn noch sehen will.
Da setzt sich Emma plötzlich auf. „Jo, warum bist du denn schon wach? Wir haben heute keinen Unterricht. Es ist Wochenende, schon vergessen?"
Ich schüttle den Kopf. „Ich wollte dich nicht wecken."
„Hast du aber", entgegnet Emma, „also kannst du mir doch jetzt auch sagen, was du vorhast."
„Ich will zu Alex", antworte ich.
Sie lächelt. „Ah, alles klar."
Ich verdrehe die Augen. „Ich will mich nur noch mal von ihm verabschieden. Er hat doch heute diese OP und es, naja, es sieht nicht gerade gut aus für ihn."
Emma nickt. „Das tut mir leid."
„Alex schafft das schon", erwidere ich, „er ist stark." Zumindest rede ich mir das ein. Wahrscheinlich hat er nicht den geringsten Einfluss darauf, ob er überlebt oder nicht, aber es tut gut, daran zu glauben.
Fünf Minuten später stehe ich vor dem OP-Saal. Pfleger Dietz schiebt ein Bett in meine Richtung und neben ihm gehen zwei Leute her. Die Frau ist Alex' Stiefmutter. Und der Mann ist dann vermutlich sein Vater.
Als Alex mich sieht, weiten sich seine Augen. „Jo? Ich wusste gar nicht, dass du kommen wolltest."
Ich zucke die Achseln. „Tja, da bin ich. Weißt du, ich wollte dir keine Hoffnungen machen, da ich nicht wusste, ob ich es schaffe, aber das habe ich."
Seufzend sieht er zu Boden. „Das hättest du nicht tun sollen."
Verwirrt runzle ich die Stirn. „Warum denn nicht?"
Er blickt an sich herab. „Es ist nur...ich..."
Da muss ich lächeln. „Wolltest du etwa nicht, dass ich dich so sehe?"
Seine Wangen röten sich. „Es ist mir einfach peinlich", erklärt er.
„Typisch Jungs", lache ich. Dann werde ich wieder ernst. „Tut mir leid, ich hätte dich wahrscheinlich fragen sollen. Ich wollte dich nur einfach nochmal sehen."
Nun schaut er mich an. „Und dafür bin ich dir wirklich dankbar."
Da räuspert sich Pfleger Dietz. „Alex, wir müssen."
Alex nickt. „Bis nachher, Jo. Okay?"
„Okay", erwidere ich und drücke seine Hand. Ich weiß nicht, ob er es schaffen wird, aber wenn ich ihn jetzt ansehe, kann ich die Bestimmtheit in seinem Blick erkennen und damit überzeugt er mich auch ein wenig.
Dann wird er von Dietz weggeschoben. Alex wirft noch einen Blick zurück. Zu seinen Eltern und dann zu mir. Seine Lippen scheinen die Worte Alles wird gut zu formen.
Als er weg ist, setze ich mich auf einen der Stühle vor dem OP-Saal. Seine Eltern sitzen mir gegenüber.
„Du bist also seine Freundin?", bricht Frau Breidtbach das Schweigen.
Ich zucke die Achseln. „So etwas in der Art zumindest. Wissen Sie, man sieht das alles ein wenig anders, wenn man jeden Moment sterben kann."
Bei dem Wort sterben zuckt sie zusammen. Natürlich ist es für sie etwas wirklich schlimmes und vielleicht auch neues. Hier, in der Klinik, sterben jeden Tag Menschen, deswegen hat das Wort keine so große Bedeutung mehr. Trotzdem fällt es mir manchmal noch schwer, es auszusprechen.
„Tut mir leid, ich meine damit nur...", fange ich an.
„Schon gut", unterbricht sie mich. „Ich weiß, wie es gemeint war, und du hast ja recht." Sie blickt mich eine Weile an. „Du kannst mich Charlotte nennen." Dann reicht sie mir die Hand.
Ich schüttle diese höflich. „Jo." Nun wandert mein Blick zur Tür des OP-Saals. Wie lange Alex wohl noch braucht?
Charlotte bemerkt meinen Blick, dann lächelt sie mir aufmunternd zu. „Das wird schon."
Wow, ich frage mich, ob alle in dieser Familie so fürchterlich optimistisch sind. Doch es scheint so.
Währenddessen kaut Alex' Vater nervös an seinen Nägeln. Na gut, er scheint nicht so optimistisch zu sein. Immer wieder sieht er angespannt zum OP-Saal.
Allein von dem Gedanken, ein paar Stunden schweigend hier rumzusitzen, wird mir übel. Ich möchte reden. Über irgendetwas. Völlig egal was. „Ich wünschte, ich hätte Alex nicht erst ein paar Tage vor dieser Operation kennengelernt."
„Ich weiß nicht, ob du das wirklich so toll gefunden hättest", wendet Charlotte ein. „Bevor er krank wurde, war er ein arroganter Kotzbrocken. Tut mir leid, ich kann es nicht anders formulieren."
Ich lache. Sie hat ja ziemlich ähnliche Ansichten wie ich. „Das ist er immer noch. Aber er ist ein arroganter Kotzbrocken mit Herz."
Charlotte lächelt. „Das hätte ich wirklich nicht besser ausdrücken können."
Vielleicht wären Alex und ich uns nicht so nahe gekommen, wenn wir uns anders kennengelernt hätten, aber trotzdem hätte ich ihn gerne früher kennengelernt. „Ich glaube, er ist nur so, weil er das Gefühl hat, im Stich gelassen zu werden. Er will Aufmerksamkeit."
„Wow", meint Charlotte, „so habe ich das noch nie gesehen. Aber ich denke, du hast recht."
Nun blickt mich Herr Breidtbach streng an. „Ich kenne meinen Sohn! Er ist nichts weiter als ein verwöhnter Bengel!"
„Matthias", mahnt Charlotte und drückt seine Hand.
Aber er zieht sie weg. „Charlotte, verteidige ihn nicht! Du kennst ihn genauso gut wie ich! Du weißt, wie unhöflich er zu dir ist!"
„Nicht immer", widerspricht sie. „Er ist ein lieber Junge."
„Er denkt, dass immer alles in Ordnung kommt, weil andere es für ihn erledigen! Wahrscheinlich ist ihm jetzt im Moment gar nicht bewusst, wie ernst es um ihn steht!"
Ich halte das echt nicht länger aus. Wie kann er nur so ein schlechtes Bild von ihm haben? Er ist sein Sohn! „Ich weiß, ich sollte mich da wahrscheinlich nicht einmischen, aber Sie haben unrecht! Kennen Sie Ihren Sohn denn gar nicht?"
„Wie redest du eigentlich mit mir?", schreit er mich an.
Aber dadurch werde ich nur noch wütender. „Alex ist nicht so, wie Sie denken! Er ist etwas besonderes! Und er könnte jeden Moment sterben! Sollten Sie da nicht ein wenig besser über ihn reden?"
Da senkt Herr Breidtbch plötzlich den Blick und seufzt. „Ich mache mir doch auch Sorgen um ihn!"
Langsam beginne ich, Herrn Breidtbach zu verstehen. Er ist nur so aufgebracht, weil er Angst um Alex hat. „Es tut mir leid. Ich hätte Sie nicht so anschreien dürfen."
Er seufzt. „Ich hoffe so, dass Alex gleich gesund und munter da raus spaziert."
Genau das ist es, was ich auch hoffe. Doch ich traue mich nicht, das auszusprechen.
„Das wird er", meint Charlotte.

Du arroganter Arsch! {Club der roten Bänder}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt