Alex

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Wir sitzen auf der Terrasse des Krankenhauses, während Jo ihren Kopf gegen meine Schulter lehnt. Ich habe so gehofft, ihr irgendwann wieder so nah zu sein und letztendlich ging es dann doch schneller als gedacht.
„Ich habe dich wirklich vermisst", gesteht Jo. „Jedes Mal, wenn wir uns in den zwei Wochen auf dem Gang getroffen haben, wollte ich zu dir. Ich wollte mit dir reden und dich umarmen. Es war, als würde ein Teil von mir fehlen."
Damit beschreibt sie auch meine Gefühle ziemlich genau. Und ich weiß jetzt, dass sie es wirklich ernst meint. Denn wenn sie mich nicht lieben würde, hätte sie keine Ahnung, wie sich das anfühlt. „Du hättest von Anfang an ehrlich zu mir sein sollen", sage ich zu ihr. „Ich wäre nicht von deiner Seite gewichen. Nie. Und ich werde es auch jetzt nicht tun."
Jo lächelt. „Und das liebe ich so an dir, dass du immer für mich da bist. Und das nach allem, was ich getan habe."
Zärtlich lege ich meinen Arm um sie. „Du hast es gut gemeint. Nur das zählt. Okay?"
Sie nickt und schmiegt sich an mich. „Okay."
Eine Weile sitzen wir so da und genießen die Sonne. Es ist schön. Aber noch schöner wäre es, wenn wir irgendwo anders als in diesem Krankenhaus wären. Doch vielleicht können wir das bald. Jo ist vielmehr als sonst. Möglicherweise dauert es nicht mehr lange, bis sie entlassen wird. Dann könnten wir abends ausgehen. Wir könnten zusammen in den Urlaub fahren. Oder wir könnten auch einfach nur gemeinsam im Park spazieren gehen.
„Ich freue mich schon darauf, wenn wir uns bald außerhalb dieses Krankenhauses sehen können", meine ich.
Sie seufzt. „Alex, ich werde nicht von heute auf morgen entlassen", erklärt sie mir. „Und nur weil ich heute mehr gegessen habe, heißt das nicht, dass ich das die nächsten Tage auch tun werde. Also mach dir bitte keine falschen Hoffnungen."
Lächelnd schüttle ich den Kopf. „Das mache ich doch gar nicht. Ich sehe doch, dass es dir besser geht. Du wirst sicher in den nächsten zwei Wochen entlassen."
„Alex, bitte", entgegnet sie, „hör auf damit. Schon bei der kleinsten unangenehmen Überraschung werde ich einen Rückfall bekommen. Verstehst du das denn nicht?"
Ich habe keine Lust, mit ihr darüber zu diskutieren. Wir haben uns in letzter Zeit genug gestritten. „Vielleicht hast du recht. Aber ich werde dir auf jeden Fall helfen. Versprochen."
Dankbar lächelt sie mich an. „Danke, Alex. Mit deiner Hilfe könnte ich es vielleicht sogar schaffen."
„Du brauchst nur jemanden, der dir Mut macht und dich nicht verurteilt", erkläre ich ihr.
Da kommt plötzlich Pfleger Dietz auf die Terrasse. Was will der denn hier? „Hallo, Alex", begrüßt er mich überrascht. „Wurdest du nicht entlassen."
Verlegen lächle ich. „Naja, ich bin ja nicht wegen mir hier."
Er runzelt die Stirn. Dann wandert sein Blick zu Jo. „Verstehe", meint er grinsend. „Und ich dachte, du würdest keine Minute länger als nötig in diesem Krankenhaus verbringen."
„Ich habe meine Meinung eben geändert", sage ich.
Er nickt. Dann wendet er sich Jo zu. „Frau Dr. Gustl will, dass du zum wiegen kommst."
Überrascht sieht Jo ihn an. „Ich dachte, sie will mich erst morgen dort sehen. Und ich habe ganz sicher nicht so wenig gegessen, dass sie sich Sorgen machen müsste."
„Naja, vielleicht zieht sie ja in Erwägung, dich zu entlassen", vermute ich und lächle sie an.
Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Frau Dr. Gustl wird mich wahrscheinlich erst entlassen, wenn ich über hundert Kilo wiege."
„So ein Quatsch", widerspreche ich. „Dietz, warum muss Jo zum wiegen?"
Er zuckt die Achseln. „Das weiß ich nicht so genau. Aber Frau Dr. Gustl sah nicht so aus, als würde sie sich Sorgen machen."
Aber Jo sieht immer noch nicht überzeugt aus. „Sie wird mich nicht entlassen."
„Das werden wir ja gleich sehen", meine ich. „Na los, komm schon." Ich nehme ihre Hand und ziehe sie auf die Beine.
Nun lächelt sie auch ein wenig. „Und du denkst wirklich, dass sie mich entlassen?"
„Logisch", antworte ich und ziehe sie mit.
Frau Dr. Gustl wartet bereits vor dem Wiegeraum. Dietz hat nicht gelogen. Besorgt sieht sie wirklich nicht aus. „Na, dann wollen wir mal."
„Kann ich auch mit reinkommen?", frage ich vorsichtig.
„Wenn Jo nichts dagegen hat", erwidert Frau Dr. Gustl.
Jo schüttelt den Kopf. „Nein, hab ich nicht."
Wir gehen rein. Jo zieht alles bis auf ihr Unterhemd und ihre Hose aus. Dann stellt sie sich auf die Waage.
Gespannt warte ich darauf, was Frau Dr. Gustl sagt. Es wäre echt klasse, wenn Jo entlassen werden würde.
Sie blickt Jo und mir ernst in die Gesichter. Oh nein, bedeutet das jetzt etwas schlechtes? Aber dann lächelt sie. „Wenn du es vier Tage lang durchhältst, so zu essen wie heute, können wir dich sofort entlassen."
Ungläubig starrt Jo sie an. „Meinen Sie das wirklich ernst?"
Frau Dr. Gustl nickt. „Natürlich."
Da bricht Jo in glückliches Lachen aus und fällt mir um den Hals. „Ich habe es geschafft! Ich habe es wirklich geschafft!"
Auch ich stimme in ihr Lachen mit ein. „Das hab ich dir doch gesagt."
„Freut euch nicht zu früh", mahnt Frau Dr. Gustl. „Jo, du musst das erst noch vier Tage lang durchhalten."
„Denken Sie etwa, Jo schafft das nicht?", frage ich mit gespielter Entrüstung.
Frau Dr. Gustl lacht. „Nein, ich denke mit dir an ihrer Seite hält sie das durch. Oder?"
Jo nickt entschieden. „Ich weiß, dass ich es schaffen kann."
„Das ist die beste Einstellung, die man haben kann", behauptet Dr. Gustl.
Wir gehen wieder nach draußen. Doch irgendwie ist Jo nicht ganz so gut drauf, wie sie wohl sein sollte. Sie wirkt sogar ein klein wenig betrübt. „Was ist denn los?", frage ich sie besorgt. „Solltest du dich nicht freuen?"
Sie seufzt. „Ja, eigentlich schon. Aber das kann ich nicht so recht. Ich meine, ich habe doch keine Ahnung, was mich da draußen erwartet. Ich war jetzt ganze vier Jahre in diesem Krankenhaus! Und ich habe Angst, es zu verlassen."
„Heißt das, du wirst dich die nächsten Tage weigern, zu essen, damit du hierbleiben kannst?" Besorgt blicke ich sie an.
Doch sie schüttelt den Kopf. „Nein. Wenn ich noch länger bleibe, wird es nur noch schlimmer. Ich muss mich nur wieder richtig einleben in der wirklichen Welt. Und ich hoffe, dass du mir dabei hilfst."
Lächelnd nicke ich. „Natürlich helfe ich dir dabei. Und ich finde es gut, dass du das wirklich durchziehen willst."
Da umarmt sie mich plötzlich. „Ich will einfach wieder ein richtiges Leben haben, obwohl ich Angst davor habe."
Zärtlich streiche ich ihr über den Kopf. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde immer da sein, wenn du mich brauchst."
„Ich weiß", erwidert sie. „Aber ich weiß nicht, ob das gut ist. Du hast schließlich auch noch ein eigenes Leben, das du leben solltest."
„Das tue ich doch", entgegne ich. „Mit dir. Und das ist genau das, was ich will. Ich will bei dir sein."
„Aber wer weiß, wie oft wir uns sehen, wenn wir wieder Zuhause sind?", wendet sie ein. „Hier im Krankenhaus sind wir uns einfach immer irgendwo über den Weg gelaufen. Aber Zuhause ist das anders."
„Wir treffen uns eben jeden Tag nach der Schule", schlage ich vor. „Mal komm ich zu dir und mal du zu mir. Ist doch ganz einfach."
„Und du meinst, wir schaffen das?", gibt sie zu Bedenken. „Ich meine, wir werden viel zu tun haben mit Hausaufgaben und lernen. Und ich muss auch viel nachholen. Im Krankenhaus hatte ich zwar ab und zu mal Unterricht, aber so weit wie in der Schule sind wir da nicht gekommen."
Ich drücke sie fest an mich. „Dabei kann ich dir doch auch helfen. Wir werden das schon schaffen. Das verspreche ich dir."

Du arroganter Arsch! {Club der roten Bänder}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt