Die Entscheidung

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Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.  - Konfuzius

London, 24.12.1942

Heute war es soweit. Der 24.12.1942, mein 16. Geburtstag. Ich hatte bis dato in einem Waisenhaus gelebt, doch da ich immer als 'seltsames Kind' abgestempelt wurde, hatte mich nie eine Pflegefamilie aufgenommen und so war ich dort geblieben. Seit ich 13 Jahre alt war, hatte ich den Plan an meinem 16. Geburtstag von dort abzuhauen, um den Hintergrund meiner Vergangenheit, der Vergangenheit meiner Eltern und unser beider Zukunft zu erfahren, vorausgesetzt ich wurde bis dahin nicht adoptiert. Ich hatte eine einzige Erinnerung an meine Eltern, das war auch vermutlich der einzige Moment den ich mit ihnen verbracht hatte. Dass ich mich überhaupt noch daran erinnern konnte war schon ein halbes Wunder, da das der Tag war an dem ich geboren wurde. Und ich war mir sicher: Die Liebe, die ich damals in diesen paar Minuten von ihnen erfahren hatte, würde ich von keiner Pflegefamilie bekommen, egal wie nett sie waren. Deswegen war ich fest entschlossen mir mehr Informationen über sie zu holen und sie dann schlussendlich zu finden. Dass es zu dieser Zeit nicht besonders intelligent war obdachlos zu werden war mir bewusst, aber ich konnte nicht länger warten. Wenn sie einen Luftangriff auf London starteten, würde ich höchstwarscheinlich sowieso sterben. Aber dann konnte ich wenigstens mit dem Gedanken sterben, alles in meiner Macht stehende getan zu haben, um meine Eltern zu finden. Um mich selbst zu finden, denn das Leben im Waisenhaus war nicht mein Leben, auch wenn ich unfassbar dankbar dafür war, dass sie mich aufgenommen hatten und für mich gesorgt hatten. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich an meine Waisenhaus - Familie dachte. Ich war die Älteste der Kinder hier, aber das war in Ordnung. Ich liebte sie alle als wären sie meine Geschwister und die Erwachsenen hatten Ersatz - Elternfiguren eingenommen. Nur heute würde, nein ich musste sie heute verlassen. Ich musste meinen eigenen Weg gehen.

Ich hatte einen kleinen Rucksack gepackt, darin waren alle Sachen die ich besaß. Eine dünne rot-golden gestreifte Decke, in die ich an meinem Geburtstag gewickelt worden war, ein kleines Schildchen mit meinem Namen darauf, mein Lieblingsbuch und ein paar abgetragene Klamotten. Socken hatte ich nur andersfarbige, aber die musste ja niemand unter meinen knöchelhohen Stiefeln sehen. Diese Stiefel liebte ich, irgendjemand hatte sie mir vor zwei Jahren zuschicken lassen, ich hatte keine Ahnung von wem das sein konnte, aber sie waren schwarz-rötlich und aus Leder und hatten mich seit diesem Tag immer begleitet. Sie passten immer noch und die Tatsache, dass man sehen konnte, dass sie abgetragen waren machte sie nicht weniger schön. Im Gegenteil, es verlieh ihnen einen einzigartigen Touch, so fand ich. Bis jetzt war ich vor dem kleinen Fenster gestanden und hatte auf die verschneiten Straßen draußen gesehen, aber jetzt musste ich mich langsam mal aus meinen Schlafklamotten herausbewegen. Es war kurz nach Mitternacht, so würde ich mich nur von Hannah und Eliza verabschieden müssen, sie waren die Betreuer und mussten die Nacht über natürlich auch ab und zu aufpassen, abwechselnd selbstverständlich. Ich hatte mir extra warme Klamotten herausgelegt die ich anziehen würde, denn es war immerhin sehr kalt. Also zog ich mir schnell einen dicken roten Weihnachtspullover an und einen sehr warmen Unterrock. Darüber dann einen bodenlangen grauen Rock, mit einem ebenfalls grauen Blazer den ich über meinen Pullover zog und zuknöpfte. Zum Schluss kämmte ich noch schnell meine relativ kurzen braunen Haare, platzierte einen Hut auf meinem Kopf und schulterte meinen Rucksack. Ich stellte mich vor meinen Spiegel und betrachtete mich darin. Dieser Rock störte mich sehr, aber Frauen trugen in London keine Hosen, das machte uns zu männlich. Aber es war Winter, guter Gott! Da würde ich lieber als männlich betitelt werden, als mir die Beine abzufrieren. Aber ich hatte nicht wirklich eine Auswahl, also würde ich so gehen müssen. Ich packte noch schnell meinen Kamm in die Tasche, zog meine Stiefel über die Socken und stieg leise die Treppe hinunter. Dort hörte ich schon die helle Stimme von Hannah, die sich mit jemandem unterhielt, der nicht wie Eliza klang. Die Stimme klang tiefer und männlicher, aber freundlich. Ich lächelte. Hannah hatte Herrenbesuch! Das wollte ich ihr zwar nicht kaputt machen, aber ich musste mich verabschieden. Also klopfte ich behutsam an der Holztür und wartete auf eine Reaktion. Kurz darauf öffnete sich die Tür auch schon und Hannah's Besuch stand vor mir. Er war groß, um einiges größer als ich mit meinem 1,64m, hatte dunkle Haare und blau-grüne Augen. Es fühlte sich so an als würden seine Augen direkt in meine Seele starren, das war ziemlich unangenehm und ich schluckte einmal kurz, bevor ich meine Stimme erhob. Ich machte einen vornehmen, damenhaften Knicks, hob meinen Rock mit beiden Händen etwas an und sagte: "Sir. Mein Name ist Hope Featherstone und ich erbitte ein kurzes Gespräch mit Ms McMartin." Dann erhob ich mich aus meinem Knicks und sah ihn höflich lächelnd an. Er erwiderte dieses Lächeln und mir lief sofort ein kalter Schauer über den Rücken. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, so freundlich er auch geklungen hatte, aber ich musste mich benehmen. Er gab ein kurzes "Ja" von sich und hielt mir die Tür auf. Drinnen erblickte ich Hannah, die sofort begriff was ich vorhatte als sie mich sah. Sie sprang augenblicklich auf, lief auf mich zu und nahm mich in ihre Arme und nuschelte dann an die 100 Mal "Oh, Hope." in meine Haare. Dann legte sie ihre Hände auf meine Schultern und schob mich ein wenig von sich weg, damit sie mich betrachten konnte. "Aus dir ist so eine schöne junge Frau geworden, Hope. Ich wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Das wusste jeder von uns. Und für diesen Fall haben wir für dich gespart, das Geld solltest du eigentlich erst an deinem 18. Geburtstag bekommen, aber dies ist natürlich eine besondere Situation." Sie legte mir eine Hand auf die Wange und sah mir in die Augen. Eine einzelne Träne kullerte über ihre Wange. "Meine Kleine. Bist du dir auch ganz sicher?" Ich nickte und lächelte sie an. "Hannah, was du, was ihr und was dieses Waisenhaus für mich getan habt und tut ist mehr als ich mir hätte wünschen können. Aber ich muss das tun. Ich muss sie finden, ich denke sie brauchen mich. Ich brauche das auch, ich muss mein Leben leben und das werde ich nur so wirklich schaffen." Hannah biss sich auf die Unterlippe und umarmte mich erneut. "Ich weiß. Ich verstehe. Es ist nur so schwer, dich gehen zu lassen, weißt du..." Ich nickte und drückte sie ganz fest. Plötzlich hörte ich ein helles "Ist es soweit?" an der Tür und drehte mich um. Dort stand Annie, eine der jüngeren Kinder. Sie war oft krank, deswegen blieb sie die meiste Zeit im Bett. Hannah versuchte sich zu beherrschen und sagte: "Geh schlafen, Annie." Diese nickte und rannte die Treppe nach oben.
"Sie wird nicht schlafen, das weißt du?" kicherte ich. Hannah grinste. "Natürlich nicht. Ich hole dir eben dein Erspartes." Ich war sehr gerührt und blieb brav stehen. Hannah kam mit einem kleinen Säckchen zurück und überreichte mir dies schnell. "Das sind knappe 70 Pfund. Mehr haben wir nicht, entschuldige bitte. Ich hoffe trotzdem, dass es dir hilft." Ich biss mir auf die Lippe und umarmte sie erneut. "Ich hab dich lieb, Hannah! Vielen, vielen Dank!" Sie lachte traurig und sagte: "Ich dich auch. Aber jetzt dreh dich mal um."
Ich löste mich von ihr und tat wie geheißen. Und dort standen sie. Alle Kinder dieses Waisenhauses, Hand in Hand warteten sie auf mich. "Ihr..." murmelte ich gerührt. "Wir lassen dich nicht gehen ohne uns zu verabschieden!" rief Thomas, ein zehnjähriger Latino-Junge. Ich lächelte und breitete meine Arme aus. "Na dann kommt mal her!" Und alle kamen her, bis auf die kleine Annie, sie würde mit ihrem zärtlichen Körper nur zerquetscht werden. Ich umarmte alle, jedes Kind einzeln und ging am Schluss hinüber zu ihr. "Komm her, Kleines", sagte ich und nahm sie in meine Arme. "Sorg dafür, dass sie alle brav bleiben, ja?" Sie nickte eifrig, dann gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn und richtete mich auf. "Danke für alles und fröhliche Weihnachten!" Und mit diesen Worten verschwand ich durch die Tür. Der gruselige Herrenbesuch sagte kein Wort mehr und es brauchte keine dreißig Sekunden, da fror ich schon.



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